Weltuntergang
Wer
den modernen Islamismus verstehen will,
muss seine
apokalyptischen Wurzeln kennen
von David Cook
Apokalypse macht mobil. Der Glaube an das
unmittelbar bevorstehende Ende der Welt verändert Menschen. Er gibt ihnen
eine Kraft, die aus der absoluten Überzeugung entspringt, dass Gott auf der
Seite des Gläubigen steht. Solche Menschen haben sehr klar umrissene Ziele.
Und sie sind getrieben vom unbedingten Willen, über sich selbst
hinauszuwachsen. Diese Faktoren finden sich bei allen wahrhaft
apokalyptischen Gruppierungen. Sie schweißen diese Gruppen zu potenziell
(wenn auch nicht zwangsläufig) destruktiven Organismen zusammen, denen die
Außenwelt fremd und feindlich erscheint. Sie muss besiegt und beherrscht
werden. Das alles ist jedem bekannt und offensichtlich, der sich mit
apokalyptischen Gruppen gleich welcher Art beschäftigt. Fraglich ist
hingegen, ob der Islam selbst ein apokalyptischer Glaube ist. Und, wenn ja,
was das für die übrige Welt bedeutet.
Wer die apokalyptischen Muslime der Moderne
verstehen will, der braucht eine klare Vorstellung von ihrer Geschichte.
Denn die Vergangenheit ist für sie höchst lebendig. Viele Theorien sind
entwickelt worden, um zu erklären, wie den Muslimen innerhalb eines
einzigen Jahrhunderts die Eroberung der gesamten Welt des Altertums
gelingen konnte - von Tours in Frankreich bis an die zentralasiatischen
Grenzen Chinas. Manche Wissenschaftler verwerfen den Gedanken, dass
religiöser Glaube bei diesen Eroberungen eine wichtige Rolle spielte. Doch
solche Voreingenommenheit schadet unserem Verständnis des heutigen Islam - und
sei es nur deshalb, weil zeitgenössische Muslime selbst davon überzeugt
sind, dass der absolute Glaube an Allah und die einigende Macht des Islam
die wichtigsten Ursachen jener Erfolge waren. Doch absoluter Glaube und
Einigkeit genügten nicht, um den Dschihad auszulösen. Eine dritte
Komponente musste hinzukommen: die Überzeugung von der Notwendigkeit, die
Welt noch rechtzeitig vor dem bevorstehenden Tag des Jüngsten Gerichts zu
erobern. Um genau diese Komponente geht es hier.
Vielleicht ist gar nicht so wichtig, was den
Eroberungszug eigentlich veranlasste. Verstehen müssen wir vielmehr, wie
moderne Muslime ihre Geschichte lesen. Diese Eroberung, Dschihad genannt,
steht den historischen Quellen zufolge in engem Zusammenhang mit
apokalyptischen Vorstellungen. Eine entsprechende Überlieferung lautet:
"Siehe! Ich wurde mit dem Schwert geschickt (von Gott), bis die Stunde
(des Jüngsten Gerichts) eintritt, und mein täglich
Auskommen wurde gestellt unter den Schatten meines Schwertes. Erniedrigung
und Demütigung sei denen, die gegen meine Sache stehen."
So verstanden, versuchten die Muslime nicht
deshalb, die Welt zu erobern, weil sie sie beherrschen wollten. Sie taten,
was sie taten, weil Gott es ihnen unmittelbar vor dem Weltuntergang
aufgegeben hatte. Der Islam liefert das erste Beispiel dafür, was eine
apokalyptische Gruppe zustande zu bringen vermag, wenn sie in kürzester
Zeit einen unmöglichen Auftrag zu erledigen hat: nicht viel weniger als
Weltherrschaft. Denn fast hätte sie ihr Ziel erreicht. Die revolutionärste
Idee des fundamentalistischen Islam besteht deshalb in der Vorstellung,
moderne Muslime könnten die Taten aus der Zeit des Propheten Mohammed im 7.
Jahrhundert wiederholen. Dem gesamten Rest der Welt, einschließlich der so
genannten muslimischen Länder, kommt dabei aus ihrer Sicht die Rolle der
Ungläubigen zu. Es ist dieser gedankliche Hintergrund, vor dem sich die
Überzeugung breit macht, ein apokalyptischer Dschihad sei nötig, um die
bestehenden Missstände zu beseitigen.
Denn aus der Perspektive heutiger Muslime
steht die Welt Kopf. Überall hat ihr Glaube an Boden verloren - als Folge
kolonialer Eroberung und christlicher Missionierung ebenso wie durch den
Kulturimperialismus westlicher Medien. Gott hat den Muslimen nicht nur
versprochen, dass sie die Empfänger seiner letzten dem Propheten Mohammed
überbrachten Offenbarung sein würden. Vielmehr würden sie außerdem belohnt
mit Herrschaft und weltlichem Erfolg. Ein volles Jahrtausend lang wurde
dieses Versprechen erfüllt. So jedenfalls sahen es die Muslime. Denn es
waren schließlich Araber und Türken, die, wie von Gott versprochen,
zwischen 630 und 1688 die globale Szenerie beherrschten. Dagegen bestreiten
nicht einmal hartgesottene Traditionalisten, dass die islamische Welt
heute, weltweit betrachtet, bestenfalls noch die zweite, wenn nicht sogar
die dritte Geige spielt. Da Gott dafür schwerlich verantwortlich sein kann,
muss die Schuld bei den Muslimen selbst liegen. Die apokalyptische Deutung
der Situation läuft darauf hinaus, dass Gott die wenigen Auserwählten kurz
vor dem Ende der Welt auf die Probe stellt. Sie müssen ihren Glauben an
Gott beweisen, indem sie die verlorene weltliche Herrschaft und göttlich
bestimmte Überlegenheit der Muslime wiederherstellen.
Man mag einwenden, das apokalyptische Wesen
des Islam sei über Jahrhunderte verborgen gewesen. Aber wenn apokalyptische
Tendenzen in einer Gruppe latent vorhanden sind und hervorzutreten
beginnen, dann beeinflussen sie nach und nach alle Mitglieder. Bereits
heute hat der apokalyptische Diskurs auch andere Gruppen innerhalb der
islamischen Welt erfasst. Selbst die religiösen Eliten, für die
apokalyptische Gruppen nur Verachtung übrig haben, können sich ihm nicht
entziehen.
Deshalb ist ein Blick auf die einzelnen apokalyptischen
Glaubensvorstellungen angebracht, die modernen Muslimen heute zugänglich
sind. Die meisten Szenarien deuten den Konflikt zwischen Israel und den
arabischen Staaten als Ausgangspunkt endzeitlicher Ereignisse. Für einige
Szenarien steht der Golfkrieg von 1990 und 1991 im Mittelpunkt. Irgendwann
in der nahen Zukunft, heißt es, wird ein dämonisches Wesen, der muslimische
Antichrist mit Namen Dadschal, die Macht über den
Großteil der Welt an sich reißen. Ausgespart werden nur ein paar
muslimische Länder sein. Welche das sein werden, ist zwar umstritten. Ganz
oben auf den einschlägigen Listen stehen jedoch die virulentesten
antiwestlichen Staaten. Jenes dämonische Wesen Dadschal
wird ein Jude sein, der mithilfe einer globalen Verschwörung nach dem Muster
der Protokolle der Weisen von Zion herrschen wird. Im Übrigen sind die
Apokalyptiker davon überzeugt, dass dieses Wesen bereits heute, seiner
physischen Erscheinung gleichsam vorauseilend, den Gang der Dinge in
bösartiger Weise beeinflusst. Vorausgesagt wird ein apokalyptischer Krieg
zwischen dem Dadschal, der den Westen und Israel
anführen wird, und den Muslimen.
Die Begriffe "der Westen" und
Christentum bedeuten für den modernen Muslim ein und dasselbe. Deshalb ist
Widerstand gegen "den Westen" ein religiöses Gebot: Westlichen
Einfluss anzuerkennen hieße, die Überlegenheit des Christentums
anzuerkennen. Das ist selbst für Muslime undenkbar, die durchaus zwischen
einem wirtschaftlichen und kulturellen System (der Westen) und einem
religiösen System (Christentum) zu differenzieren vermögen.
Antiwestliche Einstellungen kommen
üblicherweise in jenem Teil der Apokalypse zum Ausdruck, in dem es um die
moralischen Symptome der Endzeit geht. Zu ihnen zählen Abscheulichkeiten
wie Gewalt oder Sittenlosigkeit, welche es zwar zu allen Zeiten in allen
Gesellschaften gibt und gegeben hat. Der Apokalytiker
jedoch rechnet sie der Einfachheit halber westlichen Einflüssen zu.
Gleichermaßen verunglimpft er den Einfluss der westlichen Wirtschaft, weil
die Ökonomie des Westens den Kreditzins zur Grundlage hat, was der Islam
streng verbietet. So wird zum "Beweis" der Endzeitlichkeit eine
Vielzahl westlicher Traditionen herangezogen, die in jeder möglichen Weise
zu bekämpfen und abzuwehren sind.
Die Vereinigten Staaten, das versteht sich
von selbst, spielen in den meisten apokalyptischen Szenarien die negative
Hauptrolle. Grundsätzlich wird Amerika als das Große Babylon oder gar als
der Antichrist höchstpersönlich präsentiert. Jeder amerikanische Präsident
der jüngeren Vergangenheit - von Carter über Reagan und Bush bis Clinton -
wurde aus diesem oder jenem Anlass als Agent des Antichrist
dargestellt und mit Bestrafung für sein Treiben bedroht. Der Antichrist
manipuliert angeblich zwar sämtliche Länder des Westens - sein Hauptquartier
aber liegt unzweifelhaft in Amerika. Die gesamte ökonomische und kulturelle
Aktivität Amerikas spiegelt vermeintlich die Pläne dieses dämonischen
Wesens wider. Dafür wird Gott das Land mit unterschiedlichsten Mitteln
bestrafen, Erdbeben etwa oder durch Atomschläge. In verschiedenen Szenarien
unterwerfen die Muslime, nachdem sie Israel erobert haben, auch Westeuropa
und die Vereinigten Staaten.
Selbstverständlich gilt die amerikanische
Außenpolitik als vorrangige Methode der globalen Machtausübung des Antichrist. Besonders unverständlich ist Muslimen die
fortgesetzte amerikanische Unterstützung für Israel. Üblicherweise wird sie
mit einer jüdischen Verschwörung erklärt. Es gibt Ägypter und
Palästinenser, die sich durch keinen noch so schlagenden Beweis des
Gegenteils von der Auffassung abbringen lassen, alle amerikanischen
Präsidenten und sämtliche Kongressabgeordnete der jüngeren Geschichte seien
Juden gewesen. Auf dem Feld der Außenpolitik wirft man den Vereinigten
Staaten vor, den Irak zum Angriff auf Kuwait gezwungen zu haben. (Freilich
sind nicht alle Apokalyptiker pro-irakisch eingestellt. Vor allem die
ägyptischen neigen eher dazu, Saddam selbst für einen Antichrist zu halten
- nicht selten gar für einen unter israelischer Kontrolle.) In der Vergangenheit
gab es häufig Versuche, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in
einen Topf zu werfen, weil beide angeblich unter jüdischer Herrschaft
ständen. So ist auf Said Ayyubs einflussreichem
Buch Der falsche Messias ein dämonisches Wesen abgebildet, das
gleichzeitig mit einer amerikanische Flagge sowie mit Hammer und Sichel
ausgestattet ist und obendrein einen Davidstern um den Hals trägt.
Israel ist den schärfsten Angriffen der
modernen muslimischen Literatur zur Apokalypse ausgesetzt. Selten nur findet
man ein Buch oder ein Traktat, in dem der jüdische Staat nicht lang und
breit thematisiert wird. Das ist eine vergleichsweise neue Entwicklung,
denn in der klassischen muslimischen Lehre von der Apokalypse spielten
Juden kaum eine Rolle. Eine der klassischen Überlieferungen jedoch erwähnt
sie und wird deshalb oft zitiert: "Die Stunde (des Jüngsten Gerichts)
wird nicht eintreten, bis sie (die Muslime) die Juden bekämpfen. Und die
Muslime werden sie töten, bis dass einer von ihnen sich hinter dem Felsen
versteckt. Und dieser Fels sagt: O Muslim, ein Jude ist hinter mir - komm
und töte ihn!" Diese Quelle erweist sich als hilfreich für den Entwurf
von Szenarien, in denen die Muslime gegen Israel kämpfen und es
niederwerfen. Grundsätzlich wird angenommen, dass der Dadschal
die Direktherrschaft über den jüdischen Staat ausübt und dass Israel dessen
Ziele durchsetzt. Praktischerweise vermag dieses Szenario eine Vielzahl
unangenehmer Missstände und Ereignisse zu erklären: Mit seiner Hilfe stehen
die Muslime nicht mehr einem winzigen, verächtlichen und halbentwickelten
Staat gegenüber, sondern einer dämonischen Figur, die auf die Treue von
Millionen Menschen in aller Welt zählen kann und ungeheure satanische Macht
ausübt.
Die meisten Fundamentalisten glauben, dass
die moderne Welt eine Wiederholung jener Verhältnisse zur Zeit des
Propheten darstellt, als die Muslime ein kleiner Haufen von Gläubigen
waren, die sich einer Welt von Ungläubigen zu widersetzen hatten. Deshalb
erscheinen den Fundamentalisten andere Muslime, die nicht zu ihrer Gruppe
gehören, als verderbt. Tatsächlich werden sie üblicherweise zu Ungläubigen
und zu Kollaborateuren des Westens oder Israels erklärt. Folglich müssen
sie genauso hart bekämpft werden wie alle anderen auch. Das ist der Grund,
weshalb so viele muslimische Terrorgruppen gegen ihre eigenen Regierungen
vorgehen - sogar gegen solche, die dem Westen alles andere als wohlgesonnen
sind.
Besonders die Angehörigen religiöser Eliten
geraten ins Fadenkreuz. Sie unterhalten in der Regel wirtschaftliche
Verbindungen zur jeweiligen Regierung und gelten daher als Verräter, die
sich des Hasses und der Kugeln der Fundamentalisten sicher sein können.
Anders als die Einstellungen gegenüber den Vereinigten Staaten und Israel
hat diese Haltung eine gewisse Tradition im apokalyptisch-muslimischen
Denken. Das hat den Vorteil, dass sich der moderne Apokalyptiker in diesem
Fall auf klassische Lehren beziehen kann, die den Erfordernissen der
modernen Welt genügen, ohne in größerem Maße der Überarbeitung zu bedürfen.
Gern wüsste man genauer, welche Beziehung
zwischen apokalyptischer Literatur und apokalyptisch-messianischen
Gruppierungen bestehen. Wenn der Markt überschwemmt ist von Literatur über
das Weltende oder den Antichrist, müssen wir dann erwarten, dass eine
Führerfigur oder eine Gruppe sich daranmacht, den Inhalt dieser Schriften
in die Tat umzusetzen? Liest der Hamas-Terrorist im Westjordanland
tatsächlich zuerst ein apokalyptisches Pamphlet, ehe er zu seiner Bombe
greift und Selbstmord begeht? Denkt er, das Ende der Welt sei so nah, dass
es keinen Sinn mehr habe, weiterzuleben? Oder dass die Apokalypse dadurch
schneller komme, dass er den Auslöser betätigt?
Unglücklicherweise sind alle diese Fragen
kaum erforscht. Vermutungen müssen genügen. Meines Erachtens ähnelt das
Verhältnis zwischen apokalyptischen Schriften und Terrorismus dem
Verhältnis zwischen Pornografie und Sexualverbrechen. Zwar lässt sich nicht
sagen, dass ein direkter Weg vom obszönen Material zur sexuellen Gewalttat
führt. Aber es ist anzunehmen, dass die große Mehrheit derjenigen, die
solche Taten begehen, zuvor mit Pornografie nicht bloß ganz am Rande zu tun
hatten. Doch genau wissen wir selbst das nicht.
Was die Relation zwischen aufreizenden Materialien und handfesten Taten
angeht, mögen größere Optimisten deshalb zu anderen Schlüssen kommen.
Jedenfalls lassen sich die apokalyptischen
Ursachen wichtiger Ereignisse in der muslimischen Welt nicht bestreiten.
Die Islamische Revolution im Iran ereignete sich im letzten Jahr des 14.
Jahrhunderts islamischer Zeitrechnung - genau wie die apokalyptische
Revolte in der Großen Moschee in Mekka im November 1979. Beide Bewegungen
verwendeten apokalyptische Materialien, um die Dringlichkeit ihrer
Botschaften öffentlich zu vermitteln. Bei der Hamas im Westjordanland und
im Gaza-Streifen handelt es sich eindeutig um eine apokalyptische Gruppe,
wie sich aus ihren Pamphleten und ihrer übrigen Literatur ohne weiteres
ergibt. Ihre Ideologen benutzen in ihrer Propaganda gegen die PLO
regelmäßig apokalyptische Motive. Der Beginn der Intifada 1987 stimmt
überein mit einer 80 Jahre alten Vorhersage des Weltuntergangs. Sowohl die
ägyptischen wie auch die algerischen Fundamentalisten greifen ständig in
die apokalyptische Bücherkiste. Über andere Bewegungen besitzen wir zu
wenig harte Erkenntnisse. Doch vieles deutet darauf hin, dass sich
apokalyptische Elemente bei den meisten, wenn
nicht bei allen aktiven fundamentalistischen Gruppen finden lassen.
Die Kenntnis der muslimischen Lehren von der
Apokalypse ist die unbedingte Voraussetzung für das Verständnis des
modernen Islam. Wer den enormen Einfluss begreifen will, den apokalyptische
Gruppen heute auf Entwicklungen in der muslimischen Welt haben, kommt an
diesen Schriften nicht vorbei. Die betreffenden Gruppen sind oft anonym und
unbekannt - bis sie mit irgendeiner spektakulären Tat auf die Weltbühne
treten. Doch aus ihren Motiven und Glaubensbekenntnissen machen sie auch
vorher schon kein Geheimnis. Ihre Broschüren, Pamphlete und Bücher sind an
jedem Zeitungskiosk zu kaufen. Und in den Moscheen gibt es sie sogar
umsonst. Viel bleibt freilich zu erforschen, bis wir die genaue Verbindung
zwischen Literatur und Tat entschlüsseln können. Mehr als alles andere
betrifft das jene rätselhaften Selbstmordattentate, die ohne tiefe
ideologische Überzeugungen kaum denkbar sind.
Aus dem Englischen von Tobias
Dürr
© Die Zeit (2001)
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