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Islam


Im Dienste des 12. Imam

Weshalb durch den Libanon-Krieg das Erscheinen des

schiitischen Messias beschleunigt werden sollte

 

Victor und Victoria Trimondi

 

Nachdem der Libanon-Krieg schon 15. Tage andauerte, entdeckten die westlichen Medien einen Artikel in der arabischen Tageszeitung Asharq al-Awsat mit dem Titel „Irans Geheimplan, im Falle, dass er von den USA angegriffen wird, trägt den Codenamen Qiyamah.“ Der detaillierte Bericht stammte vom 27. April 2006, wurde aber erst jetzt von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Unter der Schirmherrschaft des Irans, heißt es dort, hätten sich verschiedene schiitische Djihad-Organisationen koordiniert, um im Falle eines US-Angriffs auf den Iran den Nahen- und Mittleren- Osten mit andauerndem Terror zu überziehen und darüber hinaus israelische, britische und amerikanische Ziele in der ganzen Welt durch „Märtyrer-Operationen“ anzugreifen. Beschlossen worden sei dieser „Geheimplan“ von Vertretern der Hisbollah aus dem Libanon, des Islamischen Djihad aus Palästina, der Mahdi-Armee aus dem Irak und den al-Quds-Brigaden aus dem Iran. Koordinationschef war der iranische Brigadegeneral Qassim Suleimani. Nach dem Treffen hätten die genannten Gruppen hohe Geldsummen aus Teheran erhalten.

 

Von ganz besonderem Interesse ist der Codename, der dem Plan gegeben wurde. „Qiyamah“ bedeutet Jüngstes Gericht. Der Glaube an das eschatologische Gericht am Ende der Zeiten (im Koran auch die Stunde genannt) zählt zu den Kernaussagen der islamischen Offenbarung. „Die Stunde kommt bestimmt, an ihr ist kein Zweifel möglich.“ - heißt es in der Sure 40. Der Sure 22 ist zu entnehmen, dass das „Beben der Stunde“ schrecklich sein wird, denn am „Tag der Abrechnung“, d. h. am Tag, an dem das Jüngste Gericht eröffnet wird, erscheint Allah grimmiger als je zuvor. Er scheidet die Gläubigen von den Ungläubigen und verdammt letztere zu ewigen Höllenstrafen. Theologisch ist es sicher nicht korrekt, den weltweiten Terror schiitischer „Gotteskrieger“ als Qiyamah (Jüngstes Gericht) zu bezeichnen, aber zweifelsohne annonciert dieser Codename, dass sich radikale Schiiten in Teheran, Beirut und Bagdad endzeitlicher Bilder und Metaphern bedienen, um diese in realpolitische Strategien umzusetzen. Sie sind der Ausdruck einer Endzeitstimmung, die heute die gesamte schiitische Religionsgemeinschaft erfasst hat.

 

Die Messias-Obsession des Mahmoud Ahmadinedschad

Die Grundlagen für den offiziellen Schia-Glauben legte Sayyed Ruholla Khomeini (1900-1989). Der Ayatollah entwickelte eine aktive, militante, aggressive und politische Variante des bis dahin weitgehend passiven, quietistischen und unpolitischen Schiismus, welche sich (wie der Kommunismus) als Ideologie für die Ausgebeuteten dieser Erde präsentierte. Er forderte eine islamische Weltrevolution unter der Führung der Schia, verankerte dieses Postulat in der iranischen Verfassung, stellte die Eroberung Jerusalems (al-Ouds) an den Anfang seiner religionspolitischen Globalisierungs-Vision und prägte den in der islamischen Welt höchst populären Begriff vom „Großen Satan“, ein Synonym für die USA oder den Westen insgesamt. Kombiniert wurde diese Revolutionstheorie mit dem apokalyptisch-mystischen Glauben an die baldige Rückkehr des schiitischen Endzeit-Messias, des Imam-Mahdi.

 

Nachdem sich der Iran im Krieg mit Saddam Hussein ausgeblutet hatte und sich 15 Jahre lang in einer Phase relativer Liberalität erholte, tauchten die Gespenster Khomeinis im Jahre 2005 wieder auf und nahmen von dem derzeitigen iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinedschad Besitz. Man hat den Eindruck, dass dieser kleine Mann mit dem unerschütterlichen Blick und dem großen Mund Tag und Nacht von der fixen Idee angetrieben wird, er sei dazu auserwählt, die Epiphanie des schiitischen Messias vorzubereiten. Er hat dafür gesorgt, dass dessen verschiedene Namen selbst dem westlichen Durchschnittsbürger geläufig sind. Der „Imam-Mahdi“ oder „12. Imam“ oder „Verborgene Imam“ ist jene von den Schiiten bis hin zur Ekstase vergötterte Erlöserfigur, die nach einer Zeit des Chaos und der Kriege, die Unterdrückten dieser Erde unter dem Zeichen des Halbmondes und mit keine Opfer scheuender Gewalt befreit.

 

Es scheint so, als würde der Ayatollah-Diener Ahmadinedschad all sein politisches Handeln aus dem vermeintlichen Willen des „Imam Zamam“ ableiten, des „Herrn der Zeit“, wie der Zwölfte Imam ebenfalls genannt wird. Hören wir den Präsidenten in seinen eigenen Worten: „Die Hauptmission unserer Revolution ist es, den Weg für das Erscheinen des 12. Imam Mahdi zu pflastern.“ - erklärte er während eines Freitagsgebets. In allen Bereichen müsse die iranische Gesellschaft auf dieses Erwartungsziel hin konditioniert werden: „Heute sollten wir unsere Ökonomie, unsere Kultur und unsere Politik so definieren, als basierten sie auf einer Politik der Rückkehr des Imam-Mahdis.“ Selbst die UNO-Vollversammlung wurde im September letzen Jahres nicht vom Missionsdrang des Präsidenten verschont, als er auch dort, vor einer konsternierten Weltöffentlichkeit, die baldige Ankunft des schiitischen Endzeit-Messias verkündete und sogar das Ende des säkularen Zeitalters bekannt gab. Während der Rede wähnte er sich selber umstrahlt von einer mystischen Aureole aus grünem Licht.

 

Mittlerweile werden die polit-religiösen Reden Ahmadinedschads, der sich als ein Instrument Gottes mit dem Segen der Ayatollahs versteht, hinreichend durch die Weltpresse zugänglich gemacht. Dennoch besteht weiterhin eine unverzeihliche Ignoranz (oder eine Art säkularer Ekel?) über den eschatologischen Gehalt seiner einzelnen Statements. Ein Beispiel dafür: Die europäische Presse kommentiert zwar ausführlich die markigen Sprüche des Präsidenten über das „Wegradieren [Israels] von der Landkarte“ in einem „Schicksalskrieg“, aber eine Ableitung von Ahmadinedschads exzessivem Antisemitismus aus seinem apokalyptisch-messianischen Weltbild wurde unseres Wissen bisher nicht vorgenommen. Dabei gilt nach einer vermeintlichen Aussage des Propheten Mohammed die Vernichtung der Juden als die conditio sine qua non dafür, dass die Endzeit-Ereignisse überhaupt erst in Gang gesetzt werden, so dass der Imam-Mahdi erscheinen kann. „Die Stunde [das Jüngste Gericht] wird nicht kommen bevor die Muslime die Juden bekämpfen. […] Oh ihr Muslime, Ihr Diener Gottes, hier sind die Juden, kommt und tötet sie!“ - besagt ein in der ganzen islamischen Welt immer wieder zitierten Hadith. Ein zweiter Holocaust ist somit unabdingbarer Bestandteil des eschatologischen Dogmas, nach dem Ahmadinedschad seine Politik ausrichtet.

 

Apokalyptiker aller Religionen schrecken in ihren blutigen Vernichtungsphantasien vor rein gar nichts zurück, wenn es um die Auslöschung ihrer Gegner geht, in denen sie die „Feinde Gottes“ erkennen. Deswegen ist höchste Vorsicht geboten, falls sie politische und militärische Macht erlangen. Es empfiehlt sich, immer ihre endzeitliche Ideologie vor Augen zu halten. Das sollten wir auch im Falle der Rede tun, die Ahmadinedschad am 11. Juli 2006 hielt, nachdem die ersten Bomben auf den Libanon gefallen waren: „Stoppt endlich damit, diese verdorbenen Leute [die Israelis] zu unterstützten. Achtet darauf, die Wut der muslimischen Völker ist zunehmend im Steigen. Die Wut der muslimischen Völker wird bald den Punkt einer Explosion erreichen. Wenn dieser Tag kommt, müssen sie wissen, dass die Wellen dieser Explosion nicht auf die Gebiete unserer Region begrenzt sein werden. Sie werden ganz sicher die korrupten Kräfte erreichen, die dieses heruntergekommene Regime unterstützen.“ - drohte der Präsident. Solche Worte sind sicher keine erfreuliche Reaktion auf den europäischen Vorschlag über die Schließung der nuklearen Aufbereitungsanlagen - zumal mit dem Begriff „Explosion“ auch das Resultat eines atomaren Countdowns gemeint sein kann.

 

Dass im Iran die Absicht besteht, eine A-Bombe zu konstruieren, darin sind sich die Experten einig. Schon 1992 hatte der damalige Vizepräsident, Sayed Ayatollah Mohajerani, ein Interesse seines Landes angekündigt: „Da Israel damit fortfährt, nukleare Waffen zu besitzen, müssen wir, die Muslime, zusammenarbeiten, um eine Atombombe zu produzieren, unabhängig von einer Anstrengung der UNO, der Verbreitung [von A-Waffen] zuvorzukommen.“ Bestätigt wird das heute durch einen am 13. Juli in der konservativen, iranischen Tageszeitung Kayhan Artikel: „Israel militärische Vorteile in der Region sind dabei zusammenzubrechen, und ein nuklearer Iran ist dabei das nukleare Prestige von Israel auszuradieren.“ – heißt es dort großsprecherisch. Erst eine „Schia-Bombe“ gäbe dem Iran das wirkliche Prestige apokalyptischen Schreckens. Anlässlich einer Militärparade im September 2005 wurde in Teheran eine neue Serie von Trägerraketen gezeigt, die auch mit atomaren Sprengköpfen ausgerüstet werden kann. Diese tragen den Namen Zilzal. Die Bezeichnung Zizal entspricht der 99. Sure des Korans, die von einem letzten Erdeben berichtet, welches das Jüngste Gericht (Qiyamah) einleitet.

 

Ahmadinedschad hat für seine Entscheidung, ob er das lukrative europäische Angebot als Gegenleistung für den Verzicht auf Urananreicherung annimmt, den 22. August 2006 bestimmt. So etwas geschieht in einem Land, in dem jeglichem politischen Schritt eine religiöse Bedeutung zukommt, nicht ohne symbolische Absicht. Der 22. August entspricht dem 28. Rajab des muslimischen Kalenders, dem Tag, an dem Saladin Jerusalem für den Islam im Jahre 1187 zurückeroberte. Farid Ghadry, Präsident der Reform Party of Syria fügte noch eine mystische Erklärung hinzu: Die Nacht des 21. August sei das traditionelle Datum als Mohammed auf dem geflügelten Pferd Burak in den Himmel aufstieg und das am heute umstrittensten Ort der Erde, dem Tempelberg in Jerusalem. Dieses Datum, glaubt Bernard Lewis, der Doyen der angelsächsischen Arabistik, „könnte durchaus als angemessen erachtet werden für einen apokalyptischen Untergang Israels oder, wenn nötig, der ganzen Welt.“ Auch wenn dieses Datum jetzt schon überschritten ist, ohne dass etwas passierte, im nächsten Jahr kommt es wieder. „Der islamische Staat träumt davon, die Welt zu erobern. Wenn nicht in 10 oder 50 Jahren, dann in 500 und 1000 Jahren.“ – meint die Exiliranerin Elahe Boghart.

 

Die Hisbollah (Partei Gottes) im Krieg mit der Hisb-e-Shaitan (Partei Satans)

Die Hisbollah wurde von libanesischen und iranischen Anhängern des Ayatollah Khomeini gegründet. Auch für sie wirkt und webt hinter aller Ideologie, allen staatlichen Institutionen, aller Politik als letzte Instanz aus der Verborgenheit heraus der mystische Imam. Der ehemalige iranische Minister Ali Yunesi brachte die Beziehung der Organisation zu Teheran auf die knappe Formel:  „Iran ist Hisbollah und Hisbollah ist Iran“. Das gilt in Fragen der Religion noch mehr als in Fragen der Politik. Deswegen ist das religiöse Repertoire in den Reden des Hisbollah-Führers und Judenhassers Hassan Nasrallahs, dessen Name „Sieg Allahs“ bedeutet, ohne Originalität. Er wiederholt nur, was schon von Khomeini zur Doktrin erhoben wurde. Da braucht man sich in Teheran nicht über einen möglichen Dissens zu sorgen. „Zu Hassan Nasrallah sagen wir: gut gemacht! Dieser religiöse Lehrer brüllt wie ein Löwe, und das Blut des Imam Khomeini wallt in seinen Adern.“ - skandierte der iranische Parlamentssprecher Gholam-Ali Haddad Adel kurz nach Ausbruch des Libanon-Krieges

 

Wie für Ahmadinedschad so ist auch für Nasrallah der Verborgene Imam die oberste Autorität. Über die mystische Befehlskette an deren Spitze der „Herr der Zeit“ (Imam Zaman) steht, spricht auch der Hisbollah-Chef ganz offen: „Wir müssen dem wali al- faqih [höchster Rat der Ayatollahs] gehorchen. Die Führerschaft des faqih ist wie die Führerschaft des Propheten Mohammed und die des unfehlbaren Imam [des 12. Imam]. So wie die Führerschaft des Propheten Mohammed und diejenige des unfehlbaren Imams obligatorisch ist, so ist es auch die Führerschaft des faqih […] Wenn der wali al-faqih jemandem befiehlt zu gehorchen und diese Person sich dem widersetzt, dann kommt das einer Insubordination gegenüber dem [verborgenen 12.] Imam gleich.“ Ideologisch ist die Hisbollah deswegen demselben messianisch-apokalyptischen Glühen ausgesetzt, die auch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zum „leuchten“ bringen.

 

Der Kampf der Terrororganisation gegen Israel und den Westen trägt aus diesem Grunde auch extrem dualistische und zudem kosmogonische Züge. In ihm stehen sich die Kräfte des ‚Guten’, d. h. die „Partei Allahs“ (Hisb-e-Allah das ist „Hisbollah“) und die  Mächte des ‚Bösen’, die „Partei Satans“ (Hisb-e-Shaitan), unversöhnlich gegenüber. Der Begriff „Satan“ als Synonym für Israel, für Amerika oder für den gesamten Westen gehört zur rhetorischen Standardausrüstung eines jeden Hisbollah-Sprechers. Es ist also zutreffend, wenn die Politologin Yehudin Barsky die Hisbollah als eine Organisation charakterisiert, die ihre Mitglieder dazu „auffordert, gegen die Kräfte des Bösen in der Welt zu kämpfen, um eine letzte apokalyptische Konfrontation zwischen Muslimen (gekennzeichnet als die Kräfte Gottes in der Welt) und den Westen (gekennzeichnet als die Kräfte des Bösen) zu beschleunigen.“

 

Auch wenn sich die blutigen Aktionen der Hisbollah bis jetzt weitgehend auf die Region beschränkt haben, so will die „Partei Gottes“ ihren kosmischen Krieg gegen den „westlichen Satan“ früher oder später globalisieren. Dieses Fernziel wird nicht nur offen ausgesprochen, sondern drückt sich auch demonstrativ in Emblem der libanesischen Gotteskrieger aus, das eine Hand mit einem AK-47 Gewehr, den Namen der Organisation und einen Globus (!) zeigt. Von Teheran aus wird zudem das „kosmische“ Selbstverständnis von Nasrallahs Armee ständig angeheizt: „Ihr seid die Sonne des Islams, die das ganze Universum durchstrahlt.“ - schwärmte der bisher als liberal geltende Präsident des Irans, Mohammed Khatami. Mittlerweile ist Hassan Nasrallah in der arabischen Welt zum „Super Hero“ emporgestiegen, wie der Fernsehsender Al-Jazeera auf seiner englischen Website feststellt. Auch  gläubige Sunniten, Hamas-Aktivisten und palästinensische Säkularisten sehen in ihm den Held der Stunde.

 

Die Endzeitstimmung im Irak

Trotz aller westlichen Gegendarstellungen sind im Irak die Schiiten dabei, eine islamische Theokratie nach iranischem Muster vorzubereiten. Protagonist dieses Projekts ist der 33jährige radikale Muqtada al-Sadr. Charismatisch, finster entschlossen hat der junge Ayatollah seine eigene Miliz aufgebaut, die mittlerweile gut ausgerüstete „Mahdi Armee“. Diese orientiert sich, wie schon der Name suggerieren soll, ebenfalls an einem endzeitlichen „Programm“ des Verborgenen Imam. Am 19. Februar erklärte al-Sadr in einem Interview des Senders al-Jazeera, seine Gotteskrieger seien „die Basis des Imam Mahdi und eine solche Basis des Prophezeiten [Messias] könne nicht aufgelöst werden.“ Al-Sadrs Prediger verkünden im ganzen Land, die Erscheinung des militanten Messias stünde kurz bevor und die Amerikaner wüssten darüber genau Bescheid. Sie hätten den Irak-Krieg begonnen und hielten das Land besetzt, weil sie den Imam-Mahdi töten wollten.

 

Schon al-Sadrs Vater, Muhammad Sadiq al-Sadr, und sein Großonkel Muhammad Baqir al-Sadr waren auf die schiitische Erlösergestalt sowie auf den Tag des Jüngsten Gerichts (Qiyamah) fixiert und publizierten hierzu mehrere Schriften, darunter auch eine Enzyklopädie des Imam Mahdi. Im Irak Saddam Husseins bauten die beiden Ayatollahs offen und im Untergrund ein Netzwerk von gläubigen Anhängern auf und wurden schon zu Lebzeiten als mystische Populisten verehrt. Ihre Ermordung durch Schergen des Baath-Regimes brachte ihnen die Titel „der erste Märtyrer“ und „der zweite Märtyrer“ ein. Muqtada al-Sadr führte die messianische Tradition der Familie fort und bereitet sich ebenfalls auf die Endzeit vor, obgleich er keine gründliche theologische Ausbildung genossen haben soll.

 

Seine Mahdi-Krieger beteiligen sich nur deswegen begrenzt an den Aufständen gegen die westlichen Besatzungsmächte, weil den Schiiten dank ihrer absoluten Bevölkerungsmehrheit die ganze politische Macht früher oder später von selbst in die Hände fällt und weil der bis jetzt noch übermächtige Ayatollah Sistani das Sagen hat. Sollte es aber zu einem westlichen Militärschlag auf den Iran oder Syrien kommen, dann werde die Mahdi-Armee gegen die Amerikaner und Briten einen fürchterlichen Krieg entfesseln, warnte al-Sadr vor kurzem.

 

Leere Drohungen? - In Bagdad weiß man längst, worum es den radikalen Schiiten im Grunde geht. Hören wir einen Einwohner der Stadt: „Beide, Ahmadinedschad und Sadr, sind devote Gläubige an den ‚Retter-Imam’ des Schia-Islam, der 12. Nachkomme des Propheten Mohammed. […] Sie glauben es sei ihre Pflicht, den Weg zu pflastern und den Grund vorzubereiten, damit der Imam erscheinen kann, dessen Erscheinen […] bestimmte Bedingungen und eine bestimmte Abfolge von Ereignissen erfordert.“

 

Diese penetrante Präsenz des Verborgenen Imam hat etwas Unheimliches, Surreales und Aufdringliches. Schon in den ersten Tagen des Libanon-Krieges tauchten Graffitis mit religiösen Botschaften über die Ankunft des Heilsbringers an Mauern des geschundenen Bagdad auf. Eine davon lautete: „Durch den Verzicht auf Sünde und durch Unterwerfung für das Heil nach dem Tode, werden wir die besten Soldaten unseres Führer und Retters, des Mahdi, sein.“ Solche Sprüche befinden sich besonders häufig im Gebiet um das Innenministerium mit seinen Polizeitruppen, die sehr loyal zu Sadr stehen. Auf Fahnen sind ähnliche Parolen zu lesen. Seit mehr als einer Woche marschieren Mitglieder der Mahdi Armee im Gleichschritt durch die Hauptstadt, in ihren Händen Kalaschnikows, irakische Nationalflaggen und libanesische Hisbollah-Fahnen. Sie skandieren: „Wir folgen deinen Befehlen Muqtada, wir folgen deinen Befehlen Nasrallah!“ Einige von ihnen tragen eine Banderole mit der Aufschrift: „Die Mahdi Armee und die Hisbollah Hand in Hand um die islamische Religion und den schiitischen Glauben zu verteidigen.“ Am 4. August gingen nach einem Aufruf al-Sadrs Zehntausende in Bagdad auf die Strasse, um gegen Israel und Amerika zu protestierten. Der Schulterschluss mit der Hisbollah unter dem Zeichen des allgegenwärtigen Imam ist schon längst vollzogen.

 

Sollte es zu einem Schiitenaufstand im Irak kommen, sind die Folgen nicht mehr auszumalen, denn Horrorszenen aus Apocalypse Now sind jetzt schon zum irakischen Alltag geworden. „Es gibt da einen Geschmack nach Apokalypse.“ - schreibt Reuven Paz, Direktor des Project fort the Research of Islamist Movement – „Nicht nur Jugendliche, sondern Leute in den 30ern mit Familie, sind bereit in den Irak zu gehen, und sich selbst in die Luft zu sprengen. Ungefähr 700 Menschen töten sich dort jedes Jahr. Sie glauben, dass sie am Abend vor dem Ende der Geschichte leben und das der große Sieg des Islams kurz bevorstehe.“

 

Ausgehend von den schiitischen Minderheiten in Afghanistan, über die islamische Republik Iran, über den Irak bis hin zu den Mittelmeerstränden des Libanon ist in ununterbrochener Linie eine aggressive messianisch-apokalyptische Bewegung der Schia entstanden. Sie ist machtvoller als al-Qaida, weil sie nicht nur den Terrorismus als Option hat, sondern auch eine, zumindest nach außen hin demokratische Staatspolitik. Mahmoud Ahmadinedschad im Irak, Hassan Nasrallah im Libanon und Muqtatda al-Sadr im Irak sind politische Führer von Parlamentsfraktionen und üben direkt oder indirekt Regierungsaufgaben aus. Das erlaubt es ihnen, je nach Lage, zwischen Diplomatie, Terrordrohung und realem Terror zu wählen.

 

Auch wenn Ahmadinedschad, was die endzeitlichen Inhalte seiner Reden anbelangt, am lautstärksten unter ihnen predigt, so symbolisieren Nasrallah und al-Sadr weit mehr als er das Image eines militanten Messianismus. Der iranische Präsident gleicht mit seinem offenen Hemdkragen und abgetragenen Straßenanzug einem Apparatschick der Kommunistischen Partei, die beiden Ayatollahs dagegen nehmen mit ihrer strikten, würdevollen klerikalen Kleiderordnung, ihrer Dynamik und ihrem entschlossen Ja zum Heiligen Krieg das Bild des kommenden Imam-Mahdis vorweg, so dass viele ihrer Anhänger diesen schon in ihnen leibhaftig vor sich glauben.

 

Heute sagen die Schiiten, dass ihre große Stunde geschlagen hat, und damit auch die Glocke, welche die Rückkehr ihres verborgenen Erlösers ankündigt. Ihr triumphales Selbstbewusstsein verdanken sie nicht zuletzt den USA und dem Westen insgesamt, die ihren Erzfeind Saddam Hussein und die ihnen feindlich gesinnten Taliban ausschalteten. Hinzukommt, dass durch die von Washington so gefeierte Einführung der Pseudo-Demokratie im Irak der Schia früher oder später die politische Macht im Lande ohne großes Zutun von selber in die Hände fällt, da sie die absolute Mehrheit hat. Auch der Libanon-Krieg hat das Selbstwertgefühl der Schiiten beachtlich stärken können. In der gesamten islamischen Welt wird der Widerstand Hassan Nasrallahs und der Hisbollah gegen die Israelis als glorreicher Sieg gefeiert. Das absolute Gipfelerlebnis wäre nun der Bau einer A-Bombe. Weshalb sollten die Ayatollahs in Teheran darauf verzichten?

 

Ein durchgehendes schiitisches Großreich vom Libanon bis Afghanistan würde an die 50 % aller Erdölvorkommnisse der Region besitzen – eine Horrorstatistik für den Westen. Alleine jedenfalls dürfte er das Schia-Gespenst, das er selber aus der Flasche befreit hat, wohl nicht mehr loswerden. Nur wenn die mächtigen sunnitischen Staaten, die ebenfalls den nach ihrer Vorstellung häretischen Glaubensbruder aus dem Norden wie den Teufel fürchten, der Schia-Welle einen Damm entgegensetzen, besteht Hoffnung. Dass es dazu kommt, verlangt vom Westen vor allem zwei Talente: eine brillante, ausdauernde und einheitliche Diplomatie.

 

© Victor & Victoria Trimondi