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Der Trikont Verlag

 


 

Süddeutsche Zeitung

20.03.2001, Ressort: Feuilleton

 

Delikate Szenen in Algier

Als Joschka Fischer Jassir Arafat traf: Erinnerungen eines Delegierten an die „al Fatah”-Konferenz von 1969 / Von Herbert Röttgen

In der wochenlangen Debatte über Joschka Fischers Vergangenheit ist es zu gefährlichen Phantasiebildungen gekommen. Letzteres zeigt insbesondere die mit Leichtsinn geführte Diskussion über eine al Fatah-Konferenz vom 27. bis 28. Dezember 1969, die in Algier stattfand und an der Fischer als 21-Jähriger teilgenommen hat. (Dieses Treffen wurde in der Öffentlichkeit als „PLO-Kongress” bezeichnet. Es war jedoch eine Konferenz der al Fatah mit ihrem Vorsitzenden Jassir Arafat. Bei der PLO handelt es sich dagegen um eine Dachorganisation, in der verschiedene palästinensische „Parteien” vertreten sind. ) Ich selber war damals als Verleger des Trikont-Verlages Mitglied der deutschen Delegation, die nach Algier gereist ist.

 

Alle mir aus den Medien bekannten Äußerungen der CDU/CSU/FDP/SPD/Grünen stimmen darin überein, dass auf dem besagten al Fatah-Kongress der „Endsieg” der Palästinenser und die „Vernichtung Israels” beschlossen worden sei. Fischers ehemaliger Weggefährte Thomas Schmid spricht in der FAZ von einer „Konferenz, auf der ein rasender Anti-Israelismus gepredigt und gefeiert wurde. ” Daniel Cohn-Bendit informiert in der SZ: „Auf dieser Konferenz wird Arafat eine Menge Blödsinn geredet haben, dass man die Juden ins Meer treiben will und ähnliches. ” Noch schärfer ist der FAZ-Bericht eines der Teilnehmer. Der SPD-Politiker Udo Knapp, der damals die deutsche Delegation leitete, schildert das Treffen als aggressiv, militant, ja geradezu als barbarisch. Jassir Arafat habe eine „wütende Rede” gehalten, die nicht übersetzt worden sei. Der Palästinenser-Führer erscheint in Knapps Erinnerung als skrupelloser „Schlächter” nicht nur der Juden, sondern auch der eigenen Leute: „Arafats Auftritt”, so Knapp „seine martialische Drohung mit Gewalt, zeigte schon damals nichts anderes als seinen blanken Hass auf die Israelis. Er hat niemals Frieden mit Israel gewollt. Er wollte, das war schon damals sichtbar, sein Volk in Schlachten jagen, die es zu Recht nur verlieren konnte. ” Für alle, ob sie nun Fischer verteidigen oder attackieren, steht eines fest: In Algier traf sich 1969 eine „Mörderbande von Terroristen” mit Jassir Arafat als Chef, um Israel in den Abgrund zu stürzen.

 

Da sich diese vernichtende Meinungsmache über Arafat immer mehr durch die deutschen Medien frisst, ist sie dabei, zu einem außenpolitischen Problem zu werden. Der Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat und die PLO sind heute international von allen (!) Staaten der Welt (einschließlich Israels) als die legitimen Repräsentanten der Palästinenser anerkannt. Er gilt als der designierte Partner Israels in den ständigen Friedensgesprächen seit Oslo.

 

Um den Geist, mit dem die deutsche Delegation 1969 nach Algier gefahren ist, zu verstehen, sollte man sich vergegenwärtigen, wie damals die Palästina-Frage innerhalb der Linken diskutiert wurde. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Großteil der Studenten in den 60ern eine äußerst hohe Achtung dem jüdischen Volk insgesamt und dem israelischen Staat insbesondere entgegenbrachte. Wir sahen uns von Beginn an als eine konsequent, antifaschistische und antirassistische Bewegung. Auschwitz war hier in Deutschland ebenso Auslöser der linken Protestwelle wie der von den Amerikanern geführte Vietnam-Krieg. Auch waren die vier bedeutendsten Theoretiker der Neuen Linken Juden: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Ernst Bloch. In der sozialistischen Utopiediskussion, die bei den Studenten auf großes Interesse stieß, kam die israelische Kibbuz-Bewegung immer wieder als sozialistisches Basismodell zur Sprache.

 

Unsere pro-jüdische Haltung nahm zuweilen die Züge einer regelrechten Kultverehrung an. Indem wir versuchten, das deutsche Trauma – die Nazi-Vergangenheit – zu verarbeiten und zu überwinden, betrachteten wir pauschal und enthusiastisch das jüdische Volk und den Staat Israel als eine Art Vorbild.

 

Gerade wegen dieser blinden Verehrung Israels brach der Sechs-Tage-Krieg von 1967 und die anschließende systematische Vertreibung palästinensischer Flüchtlinge aus ihrer Heimat wie ein Donnerwetter über uns hinein. Das Geschehen löste einen Schock und dann Hilflosigkeit aus. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie im Münchner SDS tagelang über eine Protestresolution gegen Israel diskutiert wurde und wie das bei einigen völlig verzweifelten „Genossinnen” zu Weinkrämpfen führte. Daniel Cohn-Bendit, selber Jude, beschreibt wie er das Ereignis in Frankreich erlebt hat: „Im Jahre 1967 hat dann der Sechs-Tage-Krieg eine ganze Reihe von Problemen für mich aufgeworfen. Vielen aktiven Genossen ging es übrigens ebenso. Bis dahin waren wir uns des Israel-Problems nicht bewusst gewesen. ” Aber auch er erlebte bald seine Ernüchterung: „Ich ging auf eine pro-israelische Versammlung in der Mutualité: es war fürchterlich, lauter chauvinistische und nationalistische Juden. Da bekam ich zum ersten Mal den jüdischen Rassismus zu spüren; genauso ziehen die Deutschen über die Türken her oder die Franzosen über die Nordafrikaner. ”

 

Cohn-Bendit ist Jude, seine Eltern mussten aus Deutschland emigrieren. Als er nach dem Pariser Mai 1968 aus Frankreich ausgewiesen wurde, solidarisierten sich die französischen Studenten mit ihm und skandierten: „Wir sind alle deutsche Juden!” Auf gaullistischen Anti-Demonstrationen hieß es dagegen: „Cohn-Bendit nach Dachau!”

 

Im Frühjahr 1969 wurde Cohn-Bendit, nur wenige Monate vor der Palästina-Konferenz in Algier, von der israelischen Linksgruppierung MATZPEN eingeladen, um vor den Studenten der Jerusalemer Universität über den Frieden im Nahen Osten zu sprechen. Auf dem Flughafen von Tel Aviv empfing ihn die gesamte israelische Presse und feierte ihn anschließend in ihren Artikeln als jüdischen Nationalhelden: „Nicht die Franzosen haben de Gaulle zittern lassen, sondern der kleine rothaarige Jude”, schrieben die Zeitungen aus der antigaullistischen Stimmung heraus, die damals in Israel herrschte. Von seiner revolutionären Einstellung aber wollte man nichts wissen, schon gar nicht von seiner differenzierten Haltung gegenüber der Palästinenserfrage.

 

Doch sehr bald schon wurde der „kleine rothaarige Jude” mit dem anderen, „hässlichen” Israel konfrontiert. Cohn-Bendit jedenfalls kommt am Ende seiner Reise zu einem vernichtenden Urteil: „Es ist manchmal schwierig, sich die Nazi-Ideologie von der Herrenrasse vorzustellen – hier in Israel ist die ständig und überall gegenwärtig und greifbar. Eine ganze Generation von Jugendlichen hält sich für die Herrenrasse und die Palästinenser als irrende Juden. Das hat mich so stark beeindruckt, dass ich schließlich keine Reden mehr halten konnte und wollte. Diese Reise hat für mich einen Bruch bedeutet. Von dem Augenblick an, da ich die faschistoiden Tendenzen der israelischen Gesellschaft erlebt habe, da ich gesehen habe wie man Genossen von MATZPEN auf offener Straße ins Gesicht spuckte, waren die Israelis für mich nicht mehr das arme Volk. Es war Südafrika. Der Rassismus ist überall. ”

 

Die politischen Positionen, welche die israelischen Linksradikalen (MATZPEN) 1969 vertraten, waren mit den unserigen hier in Deutschland weitgehend identisch: „Die Genossen von MATZPEN und ich”, schrieb Cohn-Bendit 1975 rückblickend, „hatten beschlossen, dass ich die traditionelle internationale Position vertreten sollte: ‚Ich bin gegen den jüdischen Staat, gegen die arabischen Staaten, ich bin für einen sozialistischen freien Osten, offen für alle, die in einer Gesellschaft leben wollen, die von Arbeitern- und Bauernräten regiert werden. ‘” Dann sollte er die Warnung aussprechen: „Wenn Israel sich weigert, die Palästinenser anzuerkennen, oder wenn sich die Palästinenser weigern, die Juden anzuerkennen, wird es Krieg geben.”

 

Jegliche Form des Rassismus, gleich wogegen er sich richtete, wurde von der damaligen Protestbewegung mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Dieselben Gründe, weshalb wir uns für die Palästinenser eingesetzt haben, haben uns vorher motiviert, uns für die Juden einzusetzen, weil wir strikt gegen die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen wegen ihrer Rasse und Volkszugehörigkeit waren.

 

Meine Aussagen über die Ziele, die von der al Fatah mit der Algier-Konferenz 1969 verfolgt wurden, setzen sich aus einsehbaren Dokumenten, meinen eigenen Erinnerungen und denen der anderen Teilnehmern zusammen. , wie ich sie nur aus der Presse kenne. Wichtigstes Zeitdokument ist ein Bericht, den Schwierdzig Anfang 1970 für die „Rote Fahne”, das Propagandaorgan der sogenannten KPD/AO, schrieb und der jetzt wieder aufgetaucht ist.

 

Der „erste internationale Solidaritätskongress mit dem palästinensischen Volk”, wie er von den Organisatoren bezeichnet wurde, sollte eine breite Unterstützungskampagne in den westlichen Ländern auslösen. Von dieser Intention her war er nicht auf Militanz und Aggression ausgerichtet, man wollte – im damaligen Sprachgebrauch – alle „progressiven Kreise” (Pazifisten, Liberale, Sozialisten, Kommunisten) auf das Schicksal der Palästinenser aufmerksam machen. Unter den Konferenzteilnehmern befanden sich denn auch „fortschrittliche Christen” (Schwiedrzig). Das Ziel der Organisatoren war, in der Palästinafrage eine Entsprechung zu den großen Vietnam-Protesten der Jahre 1967/1968 in Europa und Amerika zu schaffen.

 

Anderseits erhielt die Konferenz durch den Auftritt einiger Befreiungsbewegungen, die alle im "bewaffneten Befreiungskampf" engagiert waren, eine gewisse militante Note. Arafats Rede war jedoch von ihrem Inhalt her gemäßigt. Er sprach von der Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat, von der Notwendigkeit der Verteidigung ihrer Interessen und kündigte an, dass nun der „bewaffnete Kampf” gegen Israel begonnen hätte. Aber die politischen Ziele, die er artikulierte, waren nicht „hasserfüllt”: „Wir haben immer erklärt und wir erklären wieder, dass wir ein spezifisches Ziel haben, das in der Errichtung eines palästinensischen demokratischen Staates auf palästinensischem Boden besteht, in einer Heimat, in der Juden, Christen und Muslime in Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Gleichheit leben können, eine Heimat, wo es keinen Platz gibt für Rassismus, Faschismus, Fanatismus und Hass”, ist in Arafats Rede klar zu lesen.

 

Ebenso wenig ist die Schlussresolution des Kongresses „terroristisch”, wie das heute in der Presse dargestellt wird. Sie ruft zwar auf, den „bewaffneten Kampf” der Palästinenser zu unterstützen und enthält auch den viel zitierten Satz vom „Endsieg” des palästinensischen Volkes, dieser besteht aber explizit nicht in einer Vertreibung der Juden, sondern in der Errichtung eines gemeinsamen säkularen Staates beider Völker. Die Resolution setzt sich auf jeden Fall scharf vom Antisemitismus ab: „Die Konvention weist jegliche Form des Rassismus kategorisch zurück, vor allem in der Form des Antisemitismus. Sie versichert ihren Glauben an die Gleichheit aller Menschen und unterstützt den Wunsch jedes einzelnen, seine demokratischen Rechte in völliger Gleichberechtigung und in jeglicher Freiheit von rassischer und religiöser Diskriminierung auszuüben. ”

 

Arafat musste also in Algier zwei Fraktionen bedienen, erstens die Vertreter der militärisch orientierten Befreiungsbewegungen und zweitens die Vertreter der „progressiven” Protestbewegung. Er tat dies mit dem Endsatz seiner Rede, in der er die „Falken” wie die „Tauben” gleichermaßen beschwor: „Unser Volk trägt ein Gewehr in der einen Hand und einen Olivenzweig in der anderen.”

 

Die Einladung zur Konferenz wurde von der GUPS, der "Generalunion Palästinensischer Studenten" an den SDS-Bundesvorstand überreicht. Dessen Mitglied Udo Knapp stellte daraufhin das deutsche Team zusammen. Nur wenige Tage vor dem besagten Ereignis, rief er mich im Münchner Trikont-Verlag an und fragte, ob ich nicht mitmachen wolle. Die Kosten übernähme die algerische Regierung.

 

Eine Beteiligung meinerseits an dem Kongress lag auf der Hand. Ich galt als eine Art „Experte” für Dritt-Welt-Fragen, weil der Trikont-Verlag schon mehrere Bücher über die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas und Asiens veröffentlicht hatte. In Europa waren es die Verlage Giacomo Feltrinelli (Italien), François Maspero (Frankreich) und Trikont (Deutschland), die sich für den antikolonialen oder, wie es damals häufiger hieß, „antiimperialistischen” Befreiungskampf der unterdrückten Völker engagierten und die in ständigem Austausch miteinander standen.

 

Wenn ich mich richtig erinnere, trafen sich alle deutschen Delegierten mit Ausnahme von Frau Inge Presser auf dem Pariser Flughafen, um dort in eine algerische Maschine umzusteigen. Zu ihnen gehörten Udo Knapp (SDS-Bundesvorstand), Wolfgang Schwiedrzig (SDS-Berlin), Joschka Fischer (SDS-Frankfurt) und ich als Verleger des Trikont-Verlages. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich Fischer begegnete.

 

Schon im Flugzeug gab es eine erste Strategiebesprechung über das gemeinsame Vorgehen auf dem Kongress. Ich erinnere mich noch daran, wie Udo Knapp vorschlug, gegen die al Fatah zu argumentieren, da sie zu „nationalbourgeois” sei und keine sozialistisch-marxistische Perspektive habe. Eine reservierte Haltung gegenüber den Palästinenser-Organisationen war damals innerhalb der deutschen Studentenbewegung weit verbreitet. Man sprach lieber vom palästinensischen Volk und wir maßen Arafats Politik an sozialistisch-marxistischen oder sozialistisch-utopischen Gesellschaftsmodellen, in denen alle Widersprüche zwischen den beiden Völkern aufgehoben werden könnten. Deswegen hatte ich mit Knapps Vorschlag von einer Oppositionshaltung auf der Konferenz keine Probleme.

 

Marxistisch geprägte Ideen – ob sie nun ernst gemeint waren oder nicht – gab es auch in linken Gruppierungen innerhalb der PLO. So zum Beispiel bei der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas) und der PDFLP (Demokratische Volksfront für die Befreiung Palästinas). Falls wir überhaupt eine dieser Linksgruppierungen in der PLO unterstützt haben sollten, dann allenfalls die PDFLP, weil sie explizit Kontakte zu Israelis herstellen wollte, um einen gemeinsamen „Klassenkampf” von Juden und Palästinensern gegen Imperialismus und Zionismus zu führen. Das entsprach völlig unserem Wunschbild von einer „kosmopolitischen” Lösung des Nah-Ost-Konfliktes .

 

Was die Frage der Militanz anbelangt, so bestand bei jedem von uns, auch bei Joschka Fischer, ein Konsensus darüber, dass der „bewaffnete Kampf” der Palästinenser legitim sei. Nicht nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika, sondern auch zahlreiche Länder der Dritten Welt hatten sich mit Waffen aus der Vorherrschaft des Kolonialismus befreit.

 

Wenn sich der Delegierte Wolfgang Schwiedrzig für den Spiegel daran erinnert, dass „unsere Phantasie keine Grenzen kannte, was die Steigerung von Kampfformen anbelangte”, so war mir eine solche überstiegene Haltung persönlich fremd und ich glaube auch den beiden anderen Delegierten, Knapp und Fischer. Liest man dagegen in der FAZ Knapps Charakteristik der deutschen Delegierten, dann waren wir das pure Gegenteil: Nach Algier reisten junge Schwärmer, die ausschließlich „antiautoritären, antitotalitären und libertären Ideen” anhingen, und die aus reinem Zufall und nichts ahnend in das martialische Kongressgeschehen hineingetorkelt seien. Aus Schwiedrzigs „Barbaren” macht Knapp kulturbeflissene „Friedensgeister”, die „diese Reise unter den Chancen des Suchens mit der Seele” durchführten. Unsere „Reise nach Algier” wird so zu einer „Orientfahrt” à la Hermann Hesse. Bazon Brock, Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, charakterisierte Knapps Elegie im Focus mit Recht als „Behübschungsästhetik” und „Weißwäscherei”.

 

Die deutsche Delegation hatte einen Ehrenplatz in der ersten Reihe erhalten. Offensichtlich erwarteten die Organisatoren von uns eine begeisterte Zustimmung. Knapp sprach während der Diskussion mehrere scharfe Sätze aus dem Saal hin zum Podium, mit denen er die Veranstalter, die Algerier und die „reaktionären” arabischen Staaten kritisierte.

 

Die unerwartete Opposition der Deutschen löste beim Präsidium höchstes Befremden und Verwunderung aus. Die al Fatah-Schelte kam völlig überraschend. Bald darauf trat recht malerisch Jassir Arafat in den Raum, begleitet von zwei Bodyguards mit geschulterten Maschinenpistolen. Er wurde mit tosendem Jubel empfangen.

 

Die delikate Szene, die ich jetzt beschreibe, ist von den anderen deutschen Teilnehmern bisher nicht erwähnt worden: Arafat sah sich kurz im Saal um, ging als erstes strahlend auf Frau Presser zu, die er sehr gut zu kennen schien, und schloss sie herzlich und lange in seine Arme. Dann umarmte er noch den daneben stehenden, etwas verdutzten Schwiedrzig. Udo Knapp, Joschka Fischer und ich blieben jedoch cool und als er seine Hand ausstreckte, weigerten wir uns, diese zu ergreifen. Das machte ihn sehr stutzig, denn er hatte offensichtlich von Seiten der deutschen Delegation das genaue Gegenteil erwartet. Doch fasste er sich schnell und wechselte zur nächsten Gruppe über. Seine simultan ins Englische und Französische übersetzte Rede wurde immer wieder mit tobenden Applaus unterbrochen. Später teilten sich die deutschen Delegierten in drei Arbeitskreisen auf („Organisation”, „Information”, „Politik”), in denen sie sich mit Fragen der Palästina-Unterstützungskampagne beschäftigten sollten.

 

Am nächsten Morgen fuhren wir nach Algier, um dort das traditionelle Viertel, die Kasbah, zu besuchen. Das war von Seiten der Organisatoren nicht erlaubt und wir mussten einen „Geheimagenten”, der uns begleitete, abschütteln. Wir sind ihm einfach davongelaufen und er konnte uns im Gewirr der winkligen Straßen nicht mehr verfolgen. Irgendwann kehrten wir abends in den „Nationalpalast” zurück.

 

Wann und ob dort eine Schlussresolution verlesen wurde, ob wir dabei waren, ob über sie gemeinsam abgestimmt wurde oder ob jede einzelne Delegation ihre Stimme gab, das weiß ich nicht mehr. Schwiedrzig schreibt in seinem Rote Fahne Artikel, dass wir eine „Gegenresolution” verfasst hätten, die „vom Tagespräsidium ohne Diskussion souverän hinweggefegt” wurde. Darauf seien wir, als man uns das Recht verweigerte, eine Erklärung abzugeben, aus Protest aus dem Saal gegangen.

 

Der Algier-Kongress hat keinerlei sichtbare Spuren hier in Deutschland hinterlassen, bis er dann 32 Jahre später in den Mittelpunkt der Medien rückte. Er zählte zu den letzten politischen Aktivitäten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der bald darauf aufgelöst wurde. Soweit wir aus dem undogmatischen linken Lager kamen, hieß der großer Hoffnungsträger im Nahen Osten MATZPEN. „Auf lange Sicht wird diese Krise in Israel eine Antikriegsbewegung hervorbringen”, schrieb Cohn-Bendit 1975 noch voll von schönen Visionen, „weil der Krieg für Israel keine Perspektive bietet. (Es wird) für die sich politisierende Jugend äußerst wichtig sein, sich mit der MATZPEN identifizieren zu können. Die MATZPEN rettet die Ehre der Juden. Nicht nur politisch, sondern auch moralisch, für ihr Über-Ich. ” Ein Traum, der sich nicht verwirklichen sollte.

 

Von einem politisch-motivierten „Terror”, wie er dann in den 70er Jahren folgte, bestand auf der Algier-Konferenz noch keinerlei Vorstellung. Erst drei Jahre später trat der organisierte palästinensische Terror mit dem Münchner Olympia-Massaker der Gruppe „Schwarzer September” voll in unser Bewusstsein. In welcher Zeit die RAF Kontakte zu den Palästinensern aufnahm, weiß ich nicht. Teile der PLO, insbesondere aber die PFLP sind durch ihre verschiedenartigen Beziehungen zur RAF zu Mittätern an deren Aktionen geworden. Aber all das war 1969 nicht vorauszusehen.

 

Die Flugzeugentführung von Entebbe (1976), bei der deutsche Terroristen, in Kooperation mit der PFLP, Juden von anderen Passagiern, die sie freiließen, selegierten, wurde von uns mit Schrecken registriert. „Eine ungeheure Welle traumatischer Erinnerungen brach überall auf”, schrieb der jüdische Autor M. Lubetsky in der Autonomie. Deutsche brachten wieder Juden um - und diese Deutschen nannten sich „Linke”. Erst in dieser Zeit ist uns endgültig klar geworden, dass eine gemeinsame sozialistische Perspektive im Nahen Osten (zwischen Palästinensern und Israelis) ein Wunschtraum war. So ersetzten wir gezwungenermaßen die Vision vom gemeinsamen sozialistischen Friedensstaat durch die Zwei-Staaten-Theorie (hier ein autonomes Israel und dort ein autonomes Palästina), die heute – wenn auch noch nicht verwirklicht – international anerkannt und angestrebt wird.

 

Es ist der deutschen Linken und nicht zuletzt deutschen Juden wie Cohn-Bendit und dem Dichter Erich Fried zu verdanken, dass in der Öffentlichkeit unseres Landes überhaupt eine Sensibilisierung für das schwere Schicksal der Palästinenser entstehen konnte. Sie erst haben es möglich gemacht, dass dieses delikate Thema hierzulande mit dem gebührenden Respekt gegenüber allen Beteiligten (Juden, Palästinensern und Deutschen) diskutiert wurde. Fried musste sehr viel Hohn und Hass auf sich laden, als er die palästinensische Flugzeugentführerin Leila Khaled entlastete, die 1969 mit ihrer unblutigen Tat auf die Not ihrer Landsleute aufmerksam machte: „Da kamen die Drohbriefe und Telefonanrufe - mit Schimpfworten und obszönen Verdächtigungen - und wahrscheinlich doppelt so viele - weil ich Jude bin - als Kind vom Hitlerfaschismus aus meiner Heimat vertrieben - und deshalb nach Meinung der Schimpfer - ein Zionist sein müsste - statt heute Partei zu nehmen für das vertriebene Kind Leila Khaled. ”

 

Rassismus, Sippenhaft, Ausländerhass, Menschenverachtung und Ausgrenzung, gleichgültig von wem sie ausgeübt wurden und gegen wen sie sich richteten, haben wir 68er immer wieder mit großem Engagement angeklagt und haben dagegen protestiert. Deswegen ist es für mich unverständlich, weshalb im Zusammenhang mit dem al Fatah-Kongress in Algier ehemalige linke Protagonisten wie Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit nicht den klaren antirassistischen Geist, der uns damals beseelte, zu ihrer Selbstverteidigung angerufen haben. Fischer lässt es unwidersprochen zu, dass sein SPD-Sekundant Udo Knapp Jassir Arafat als „Schlächter” beschimpft, der „niemals Frieden mit Israel gewollt” habe und Cohn-Bendit suggeriert, der PLO-Führer habe in Algier „die Juden ins Meer treiben” wollen. Das entspricht, ja, übersteigt noch die aggressive Sprache, mit der die Bild-Zeitung 1968 gegen die protestierenden Studenten vorgegangen ist. Fazit: nicht Fischers Vergangenheit ist ein Problem, sondern der Umgang mit seiner Vergangenheit.

 

Eine „Terrorisierung” der Palästinenser insgesamt und Arafats im besonderen sind heute in israelischen Kreisen ebenso aktuell wie eine rassistische Verteufelung der Juden in fanatisierten Palästinenserkreisen. Auf der einen Seite ruft die Hamas zum „Heiligen Krieg” auf; auf der anderen Seite steht der Hardliner Ariel Sharon, dessen früheren Militäraktionen im Libanon selbst von vielen Israelis als „nackter Terror” angesehen wird. Am 26. Februar rief der Generalsekretär des größten jüdischen Siedlerrates, Filber, öffentlich zur Ermordung des PLO-Führers auf und der Zerstörung seines politischen Apparates auf. Er betonte, jeder Bürger Israels wisse, dass es keinen Frieden mit dem "Terroristen" Arafat geben könne. Wer die deutschen Presseberichte über die "terroristische" al Fatah-Konferenz von 1969 und deren „Bandenchef” Arafat liest, müsste Filber eigentlich recht geben. Die vertrackte Situation im Nahen Osten hat nur eine Chance, wenn Israelis und Palästinenser in der Beurteilung ihrer Vergangenheit mit höchster Vorsicht, gegenseitiger Toleranz und einer konstruktiven Kritik umgehen. Dazu brauchen sie die Hilfe der internationalen World-Community, aber auch die Unterstützung eines deutschen Außenministers.


Herbert Röttgen gründete 1967 den Trikont Verlag, der mit seinem Programm aufs engste mit der 68er-Bewegung verbunden war.

Jassir Arafat musste in seiner Rede bei der „al Fatah”-Konferenz in Algier zwei Fraktionen bedienen: „militärisch orientierte Befreiungsbewegungen” und die „progressive Protestbewegung. ” Das gelang. Hinten links klatscht Joschka Fischer mit.

Foto: Abisag Tüllmann/bpk

 

 

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