Kritik der
Johannesoffenbarung
Das wohl
schrecklichste Erbe des Neuen Testaments
ist die
so genannte Offenbarung des Johannes
In seinem Artikel „Der Fluch
des Christentums – Die Sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen
Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren“ (Die Zeit,
Nr. 20, 11. Mai 2000, S. 41-42) setzt sich der Berliner Kulturphilosoph
Herbert Schnädelbach mit sieben Aspekten des
Christentums auseinander, die seiner Ansicht nach die bedeutsamsten
Problemfelder dieser Religion darstellen. Darunter findet sich auch eine
Einschätzung der Johannesoffenbarung, die uns hier besonders interessiert.
Sein Artikel hat in Theologiekreisen zu Aufregung und Protesten
geführt.
Nach Schnädelbach
können die „sieben Geburtsfehler“ des Christentums gar nicht reformiert
werden, da sie einen paradigmatischen Charakter tragen. Der Artikel
spricht:
- von der Erbsünde: „Was die Lehre von der
Erbsünde anthropologisch bedeutet, liegt auf der Hand. Sie ist
menschenverachtend. Der Mensch, wie er geht und steht, ist verblendet,
wenn er sich nicht für ‚verderbt‘ und für unfähig zum Guten hält.“
- von der Rechtfertigung als blutigem
Rechtshandel. Damit ist die Kreuzestheologie gemeint: „Das Christentum
kann sich Glauben/Liebe/Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen; je
blutiger, desto authentischer.“
- vom Missionsbefehl: „Der Missionsbefehl ist ein
Toleranzverbot, denn was anders ist, als christlich, ist nur dazu da,
getauft zu werden.“
- vom christlichen Antijudaismus: „Der Holocaust
war ohne das Christentum nicht möglich, viele Christen haben sich
daran ohne schlechtes Gewissen beteiligt, und die katholische Kirche
hat dazu geschwiegen; zu diesem Schweigen schweigt der Papst bis
heute.“
- von der Eschatologie (siehe unten)
- vom Import des Platonismus: „Erst der Import
des Platonismus hat im Christentum die menschliche Leiblichkeit
vergiftet. Diese Lebensform lebt im Zölibat fort, in dessen Geschichte
die kirchenpolitische Verhinderung priesterlicher Dynastiebildung
allmählich zu einem besonderen geistlichen Gut umfunktioniert wurde.“
- vom Umgang mit der historischen Wahrheit: „Der
strategische Umgang mit der historischen Wahrheit um einer höheren
Wahrheit willen ist ein Erbübel des verfassten Christentums. Da haben
die Evangelisten Tatsachen erfunden, und bis in unsere Tage war es
Christen streng verboten, sie auch nur zu bezweifeln.“
Als fünfter Geburtsfehler
wird die Eschatologie genannt, gemeint ist damit die christliche
Apokalyptik. Schnädelbach schreibt hierzu:
„Das wohl schrecklichste Erbe
des Neuen Testaments ist die so genannte Offenbarung des Johannes, die alle
Ansätze christlicher Eschatologie im Neuen Testament zusammenführt und
dramatisiert. Nichts hat seit zwei Jahrtausenden die Menschen des
Abendlandes so kontinuierlich in Angst und Schrecken versetzt wie dieses
Buch. Fast jedes Kathedralportal und viele Tafelbilder bezeugen dies, vor
allem aber das uralte dies irae aus der
Totenmesse, in dem die ausführliche Schilderung des Grauens der Apokalypse
nur unterbrochen wird durch das wimmernde Flehen um Erbarmen.
Jahrhundertelang haben die Menschen im Schatten dieser Panikvisionen
gelebt. Die wissenschaftliche Auskunft, Apokalypsen seien um die
Zeitenwende eine verbreitete Literaturgattung gewesen und schließlich habe auch
eine jüdische Eschatologie existiert, vermag nichts gegen die katastrophale
Wirkungsgeschichte des letzten Buches der Bibel.
Zwischen der jüdischen und
der christlichen Eschatologie bestehen wichtige Unterschiede. Die Messiashoffnung der Propheten ist in ihrem Kern eine
politische und bezieht sich bei Jesaja auf die
Wiederaufrichtung des Reiches Davids. Trotz des Transports dieses Motivs
ins Weltgeschichtliche bleibt es auch bei Daniel beim Ethnozentrismus.
‚...im Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dein heiligen
Volk des Höchsten gegeben werden, des Reich ewig ist, und alle Gewalt wird
ihm dienen und gehorchen‘ (Daniel 7, 27). Zugleich fließt hier schon das
altägyptische und platonische Motiv eines Totengerichts auf der Grundlage
von ‚Büchern‘ mit ein, das sich aber auf ganze Völker bezieht (Daniel 7, 10
und 4 ff). Genau dies greift die christliche Apokalypse auf (Offenbarung
20, 11 ff), um es sofort zu individualisieren, das heißt, die ganze Bürde
des ‚Jüngsten Gerichts‘ lastet jetzt auf jedem Einzelmenschen, der sich
dabei dem ‚feurigen Pfuhl‘ (V. 15) als künftiger Alternative ausgesetzt
sieht. Damit erzeugt die christliche Apokalypse einen ungeheuer verstärkten
eschatologischen Druck. So hat sich hier das Christentum ein Instrumentarium
unablässiger Verunsicherung und Disziplinierung der eigenen Leute
geschaffen, durch das es ständig den Ausweg aus von ihm selbst erzeugten
Ängsten verheißt, um sie im gleichen Atemzug erneut zu schüren; jede Feier
des Requiems folgt diesem Mechanismus. Nur so ist zu erklären, warum sich
so viele Menschen über so viele Jahrhunderte von der Offenbarung des
Johannes terrorisieren ließen.
Die christliche Eschatologie
hat auch politisch gewirkt: in der Gestalt eschatologischer Politik von
Christen und Nichtchristen. Sektenführer versuchten, selbst die Apokalypse
herbeizuzwingen und zu vollstrecken, und Tausende sind ihnen dabei in den
Tod gefolgt; die Ahnenreihe reicht von mittelalterlichen Sektierern, über
Savonarola und die Täufer bis zu den religiös motivierten kollektiven
Selbstmorden unserer Tage. Die Zahl der Opfer eschatologischer Politik
unter Bedingungen der Profanität hingegen geht in die Millionen; dabei
handelt es sich um Versuche, den endgültigen Sieg des Guten und die
definitive Vernichtung des Bösen Gott aus der Hand zu nehmen und mit
menschlichen Mitteln zu erreichen. Die unvermeidbare Konsequenz ist Terror.
Natürlich macht es keinen
Sinn, den ‚Seher von Patmos‘ für die apokalyptischen Untaten Lenins,
Stalins, Pol Pots oder Hitlers verantwortlich zu machen, aber die Christen
sollten sich doch fragen, wie sie es mit der Eschatologie halten wollen.
Liegt nicht in der Verheißung: ‚Gott wird abwischen alle Tränen von ihren
Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz
wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen‘ (Offenbarung 20,4) eine
ständige Versuchung, hier Gott durch einen modernen Götzen zu ersetzen -
gemäß Blochs Diktum ‚Ubi Lenin ibi Jerusalem‘ - und dann die Preise zu verschweigen,
die man zahlen muss? In der Bibel haben die in den feurigen Pfuhl
geworfenen Gottlosen die Zeche zu zahlen; nach dem Abschied von der
Religion waren die an der Reihe, die im Zeichen von ‚Endlösungen‘ die Hölle
auf Erden durchleiden mussten. Wäre es nicht christlicher, die Eschatologie
unter das biblische Bilderverbot zu stellen?“
Besonders originell an dieser
Einschätzung ist der „eschatologische Druck“, der nach Schnädelbach
durch die Apokalyptik auf die Gläubigen ausgeübt wird. Am Ende seines
Artikels kommt der Autor zu dem Schluss: „Ich habe den Eindruck, dass das
verfasste Christentum in der modernen Welt sein tatsächliches Ende längst
hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben. Kirche als moralische
Anstalt und als soziale Veranstaltung - das verdient Respekt und Unterstützung.
Die Kirchen sind nicht zufällig leer; denn wer versteht schon die
Predigten, Bibel- und Liedertexte? In Wahrheit haben die Kirchen nichts
spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur
auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz
insgesamt verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich
erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus.
[…] Erst in seinem Verlöschen könnte sich der Fluch des Christentums doch
noch in Segen verwandeln.“
Herbert Schnädelbach
lehrt als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Vor wenigen Jahren ist von ihm im Frankfurter Suhrkamp Verlag die Vortrags-
und Aufsatzsammlung Philosophie in der modernen Kultur erschienen.
Siehe auch:
Wasch mich mit dem Blut meiner Feinde und
ich werde der sein, der ich bin - D. H. Lawrence zur Offenbarung des
Johannes
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