Faschismus als "Religion"
Ein Blick in die Literatur
Versuche, den
Nationalsozialismus oder den Faschismus insgesamt als eine "politische
Religion" darzustellen, stoßen oft auf Widerstände unter Historikern
und Kulturologen. Das mag vor allem drei Gründe haben: Erstens die Vorstellung,
dass Religion etwas Edles und Ethisches sein müsse und deswegen nichts mit
den Verbrechen des Dritten Reichs zu schaffen haben könne. Zweitens, dass
Religion etwas Transzendentes, Übernatürliches beinhalte, während sich das
NS-Regime durch eine brutale, machtpolitische Realpolitik ausgezeichnet
habe. Drittens sollen die religiösen Charakterzüge des Nationalsozialismus
gerade deswegen geleugnet werden, damit er nicht als "Religion"
und der damit verbundenen mentalen und seelischen Bindung eine Auferstehung
erlebe. Das erste Argument fällt in sich zusammen, da Religion per se keineswegs pazifistisch und
"moralisch" sein muss, wie uns die Geschichte aller Religionen
gezeigt hat, sondern Schrecken, Furcht, Verdammung, Willkür, Rachsucht,
Ungerechtigkeit, Fluch, Vernichtung können ebenso das religiöse Szenario
beherrschen wie das politische. Nach Rudolf Otto sind Schreckensereignisse
geradezu Hauptmerkmale des Religiösen, da sie sich am besten eignen, ein tremendum (ein Erschauern) bei den
Gläubigen hervorzurufen. Ebenso ist das zweite Argument von der notwendigen
Transzendenz des Religiösen geschichtlich nicht haltbar, da die
Verflechtung von Religion und Gemeinschaft, von Kirche und Staat, von
Herrscher und Gott in archaischen Gesellschaften zur Norm zählte. Das
Religiöse war somit immanent, die Götter verkehrten mit den Menschen, Ekklesia (Kirche) und Imperium (Staat) waren identisch. Im
übrigen gab es auch unter dem Nationalsozialismus Bestrebungen ihre System
in der Transzendenz zu verankern, beziehungsweise daraus abzuleiten. Das
dritte Argument, um sich vor einer religiösen Renaissance des Faschismus zu
schützen, ist überholt, da sich Neo-Nazismus und Neo-Faschismus
mittlerweile schon als eine weltweite
polit-religiöse Strömung etabliert haben. Die "Religionsdebatte"
über Faschismus und Nationalsozialismus ist also ein hochaktuelles Thema.
Einige ältere und neuere Beiträge hierzu wollen wir kurz vorstellen:
Harald Strohm - Die Gnosis und der Nationalsozialismus - Frankfurt 1997
Strohms
interessanter Text zieht einen Vergleich zwischen der gnostischen Weltsicht
in ihren verschiedensten Ausprägungen
(insbesondere aber in der Form des Manichäismus) und der NS-Ideologie. Das Buch
beabsichtigt keine systematische Darstellung, sondern ist eine Art Collage,
die Statements aus beiden Kulturströmungen gegeneinander stellt und dann
kommentiert. Hauptmerkmal der Gnosis ist der krasse, unversöhnliche
Dualismus zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse, Mann und Frau. Diese
beiden Widerkräfte werden in der NS-Ideologie durch den lichten Arier und
den dunklen Juden gespielt. "Zwei Welten stehen einander
gegenüber!" - soll Hitler gesagt haben – "Der Gottesmensch und
der Satansmensch! Der Jude ist der Gegenmensch, der Antimensch. Der Jude
ist das Geschöpf eines anderen Gottes [....] Der Arier und der Jude: Sie
sind soweit voneinander wie das Tier vom Menschen." Die höchste Sünde
der Gnosis besteht in der "Vermischung" der Parfaits (der Vollkommenen) mit den Unvollkommenen. Bei den
Nazis hieß dies "Rassenschande". Der reine und der sündige
Mensch, der göttliche Führer in Menschengestalt und der Untermensch, die
Lichtgestalt im Kampf mit dem Dämon, dieses hinreichend bekannte Szenario
wiederholt sich in allen Spielarten in den Reden und Schriften Hitlers,
Goebbels, Rosenbergs und Himmlers. Sie alle standen - nach eigenem
Selbstverständnis - als edle Ritter an vorderster Front gegen die von Gier
und Gold besessenen Mächte der Finsternis, die immer wieder den Angriff auf
die leuchtend schönen Gestalten des Gralsreichs wagten.
Der Mensch - so glaubten die Gnostiker -
werde durch den Eros an die Finsternis gefesselt. Wenn die Welt zu tief
gefallen ist, sich immer mehr in die Fesseln der Sinnlichkeit und des Materialismus
verstrickt hat, dann muss sie aufgelöst, dann müssen alle Dinge zerstört
werden. Als Richter und Erlöser tritt dann eine Lichtgestalt auf, die mit
dem Schwert in der Hand das Erlösungswerk blutig vollendet. Hitler wurde
als ein solcher Erlöser "erkannt" und entsprechend
propagandistisch präsentiert. Das Hakenkreuz erscheint als ein Lichtsymbol,
das den Menschen aus den "drang- und wahnhaften Strebungen tierischer
Gebundenheit" emporzieht.
Strohm kommt auch auf die Neu-Gnostiker
zu sprechen wie Helena Blavatsky, Lanz von Liebenfels, Rudolf Steiner,
Abd-Ru-Shin, Jakob Lorber, deren Denkstrukturen denen der Nazis ähneln,
obgleich sie teilweise von diesen verfolgt wurden. Weltangst und Welthass
stehen am Beginn der gnostischen Theologie.
Der gnostischen Schere aus Licht und
Dunkel, die den Menschen in zwei Teile schneidet, zu entkommen, ist nach
Strohm schwierig, da unser abendländisches Denken auf weiten Strecken jenem
verhängnisvollen Dualismus verpflichtet ist. Als Therapie empfiehlt er unter
anderem die Pluralisierung von Gesellschaft und Staat. Lichtstaaten
tendieren zum Totalitarismus, Staaten, die von Montesquieu das Prinzip der
Gewaltenteilung übernommen haben, tendieren zur Toleranz. Das Zersplittern
des Monopolgeistes, das Adam Smith für die Wirtschaft gefordert habe, führe
zu einem Pluralismus in der Wirtschaft und David Hume habe einen
Pluralismus des Himmels entworfen. Der englische Philosoph zerstörte die
Despotie des orientalischen Himmelsvaters und besang die Wiederkehr der irdischen
Götter. Humes restaurierter Polytheismus war ein Versuch, Finsternis und
Licht miteinander zu verbinden.
Als weiterer Therapeut wird Arthur
Schopenhauer genannt, der eine Sprache geschaffen habe, in der sich Tagwelt
und Finsternis wieder vereinigen können. Strohm versucht den Philosophen
als einen weisen Narren, als einen "Harlekin" darzustellen, der
ohne jegliches System philosophiert habe und sich deswegen jenseits krasser
Dualismen aufhalte. Aber es gibt Systematik in der Schopenhauer’schen Philosophie.
Diese besteht unter anderem in seiner vom buddhistischen Denken geprägten
Erkenntnistheorie, welche die Welt als reine Vorstellung, sprich Illusion
wahrnimmt. An die Stelle des gnostischen Kampfes gegen die Welt des Bösen,
tritt zu einem gewissen Zeitpunkt die Verneinung der Welt als solcher. Es
ist schwer verständlich, weshalb Strohm das geschichtsträchtige Trio Schopenhauer - Wagner - Hitler nicht
in die Diskussion mit einbezieht.
Ebenso wenig erscheint es uns schlüssig,
dass Wittgensteins "intellektueller Solipsismus" fähig sein soll,
die Gnosis des Nationalsozialismus zu therapieren. Wie Schopenhauer, so
stellt auch Wittgenstein das Ich als Illusion dar. Im Tractatus steht die Aussage:
Das Ich des Solipsismus schrumpft zu einem ausdehnungslosen Punkt und
es bleibt nur noch die ihm koordinierte Realität. Wie aus solch einer Ich
auflösenden Position heraus der Nazi-Wahn „therapiert“ werden soll, ist für
uns schwer nachvollziehbar. (Siehe hierzu die folgende Besprechung von Kimberley Cornish - Der Jude aus Linz - Hitler und
Wittgenstein.)
Interessant sind die Stellen, wo Strohm
die Gnosis als kosmischen Geschlechterkampf darstellt. So kommt bei ihm
immer wieder zur Sprache, dass das bekämpfte "Schattenreich" mit
dem unterdrückten Weiblichen in einem Zusammenhang stehe. Aber er neigt
dazu, sich allzu einseitig auf die Seite der "dunklen Mutter" zu
stellen. Angesichts der "Lichtorgien", die das Abendland in
seinen Religionen Jahrhunderte lang gefeiert hat, verständlich, aber sicher
auch keine Lösung, um mit einem erotischen Spiel zwischen Licht und
Schatten zu beginnen. Am aller wenigsten erscheinen uns die
"Weiberfeinde" Schopenhauer und Wittgenstein prädestiniert, ein
solches Spiel zu spielen. Es bedarf hierzu gleichermaßen des Mannes wie der
Frau. Auch das "Leerwerden" meistert kaum den Kampf der
dualistischen Gegenkräfte, sondern tritt aus der Welt des Lebens hinaus, so
wie es der Buddhismus lehrt.
Das Ende des Buches erscheint etwas
unbefriedigend. "Wenn wir diesen Hitler als Kind einer verwirrten
Finsterniswelt anschauen," - schreibt Strohm – "gelingt es
vielleicht, ihn, statt weiterhin zu verdrängen, zu barbarisieren und zu
satanisieren, als Teil unserer eigenen, zumal religiösen Geschichte
anzunehmen. Dann, denke ich, wird es möglich, Wege, neue Wege zu gehen, die
verhindern, dass ein solches Kind wiederkehrt." (275) Ein solcher Satz
ist ambivalent. Er soll zeigen, dass Hitler nicht nur Täter sondern auch
das Opfer einer gnostischen Weltsicht war, die das europäische Denken
entscheidend bestimmt hat. Weil er
ein Opfer falscher Ideen war, muss man ihm jedoch nicht gleich das
Gewand des "unschuldigen Kindes" umhängen. Das würde bedeuten,
allein die Philosophen und Denker, die ihn beeinflusst haben, zur
Verantwortung zu ziehen und ihre Erfüllungsgehilfen, die Staats- und
Feldherren, zu entlasten. Die
Lösungsvorschläge in Strohms ansonsten interessantem Buch sind insgesamt
hilflos, und zeigen an, dass es ohne ethische Normen nicht möglich ist, dem
Licht und Schattenkampf zu entkommen, wobei eine solche Ethik in der Lage
sein muss, so weit wie möglich aus dem Schwarz-Weiß-Denken herauszutreten.
Therapie statt Strafe wäre hierbei ein wichtiges Modell, welches auch von
Strohm erwähnt wird.
Kimberley Cornish - Der Jude aus Linz - Hitler und
Wittgenstein - Berlin 1998
Michael Ley und Julius H. Schoeps – Der Nationalsozialismus als politische
Religion – Bodenheim 1997
Schon während der NS-Zeit
erschienen Arbeiten und Äußerungen, die im Nationalsozialismus die
religiöse Seite hervorhoben. Thomas Mann schrieb 1933 in sein Tagebuch über
Hitler: "Dieser vergötzte Popanz, der Millionen eine Religion
bedeutet." (z. b. Ley/Schoeps, 1997, 158) Einer der wichtigsten
Beiträge ist zweifelsohne das Buch Gespräche
mit Hitler von Hermann Rauschnings,
ehemaliger Staatspräsident von Danzig und zeitweise Anhänger des
Diktators. Rauschning sprach von der "Katholizität des neuen Glaubens
an den Gott verkörpernden Führer" – und folgerte – "so hat man
die Position des Nationalsozialismus bezüglich seines
Weltmachtstrebens." (Rauschning, Hermann: The Conservative Revolution
– New York 1941, s. 111) Der französische Schriftsteller Raymond Aron
schrieb 1944 "Ich schlage vor, jene Doktrinen, die in den Herzen
unserer Zeitgenossen den Platz des abhanden gekommenen Glaubens annehmen
und die das Heil der Menschheit in der Gestalt einer neu zu schaffenden,
sozialen Ordnung im Diesseits und in einer fernen Zukunft sehen
'säkulare Religion' zu nennen."
(z. b. Ley, 1997, 172)
Nach dem Kriege sprach Albert Camus in
seiner Studie L’homme révolté von
einer "nationalsozialistischen Mystik", die eine
"Vergöttlichung des Irrationalen" betreibe. Friedrich Heer sah
den Nationalsozialismus als eine Imitation der Katholischen Kirche (Der Glaube des Adolf Hitler – Anatomie
einer politischen Religiosität). Albert Michael Brocke und Herbert
Jochum haben in ihrer Schrift Theologie
des Holocaust den Nazismus als "säkularen Messianismus"
bezeichnet.
Es ist das Verdienst der Anthologie von
Ley und Schoeps, dass diese Diskussion über den Nationalsozialismus als
"politische Religion" fortgesetzt wird. Wichtige Phänomene wie
der NS-Erlösungswahn, die NS-Verkündigung,
der NS-Messianismus und der NS-Vernichtungswille werden durch kompetente
Autoren, einige davon aus Frankreich, diskutiert. Ein immer wieder
angesprochenes Thema ist das apokalyptische Element, das in einer
Endschlacht zwischen den Mächten des Lichtes und den Mächten der Finsternis
kulminiert. Dieses dualistisch-gnostische Denken hat in der
Religionsgeschichte Europas schreckliche Spuren hinterlassen und fand im
"Dritten Reich" eine makabre Renaissance. Michael Ley spricht
geradezu von der "nationalsozialistischen Apokalypse als Höhepunkt
einer neuzeitlichen Gnosis". Klaus Vondung hat schon seit Jahren auf
die Religiosität des NS-Regimes verwiesen und dessen enge Bindung an die
Apokalypse aufgezeigt. In seinem einleitendenden Aufsatz "Die
Apokalypse des Nationalsozialismus", kommt er auf Literaturen zu
sprechen, die Hitler wie in der Eucharistie feiern. Hitler – so Vondung -
habe schon in Mein Kampf ein apokalyptisches Szenario entworfen,
das er später in der Realität umsetzte. Die Mächte des Lichts werden hier
vertreten durch den rassereinen Arier, die Mächte der Finsternis durch die
Juden. Bilder der Johannesapokalypse sind auch für die NS-Ideologen von
großer Attraktion: "Der Jude ist wohl der Antichrist der
Weltgeschichte." - hören wir von Goebbels - "Man kennt sich kaum
noch aus in all dem Unrat von Lüge, Schmutz, Blut und viehischer
Grausamkeit." –. (43) Am Ende dieses kosmischen Krieges, steht ein
"Reinigungsritual, das in der Ausmerzung der bösen Kräfte",
sprich der Juden, kulminiert.
Eric
Voegelin – Die Politischen Religionen
– München 1993 (Erstauflage 1938)
Eric
Voegelin, der 1938 den Begriff der "politischen Religionen"
prägte und damit die NS-Bewegung, den Faschismus wie den Kommunismus
gleichermaßen ansprach, sah dort den sakralisierten, christlichen Glauben
an Gott ersetzt durch den Glauben an ein "Realissimum", sei dies
nun der Staat, die Volksgemeinschaft, die Rasse oder die Klasse:
"...... wenn Gott hinter der Welt unsichtbar geworden ist, dann werden
die Inhalte der Welt zu neuen Göttern; wenn die Symbole der überweltlichen
Religiosität verbannt werden, treten neue, aus der innerweltlichen
Wissenschaftssprache entwickelte Symbole an ihre Stelle" (50)
Angesichts dieser überpersönlichen "Realissima" habe der Mensch
als Person keine Existenzberechtigung mehr. "Der Kontakt von Mensch zu
Mensch ist unterbrochen, un-menschliche Geistgebilde stehen einander
gegenüber, und der Mensch ist gewandelt zu einem Maschinenmitglied,
mechanisch im Getriebe mitspielend, abstrakt nach außen kämpfend und tötend.
[....] Die Existenz des Menschen verliert in seinem Erlebnis an Realität,
der Staat zieht sie an sich..." (14)
Voegelin unterscheidet zwei Formen des
Glaubens. "Überweltliche Religionen", welche den Seinsgrund in
der Transzendenz suchen und "innerweltliche Religionen", bei
denen das Sein von der Göttlichkeit durchdrungen ist. Letzteres führt zu
einer Sakralisierung der Wirklichkeit und auch des Staates. In den
"transzendenten" Religionen wird die Kirche (Ekklesia) zwar vom
Sakralen durchströmt, ist aber selber nicht das "Allerheiligste".
In den politischen, "immanenten Religionen" dagegen wird der
Staat zum summum sanctum
(höchsten Heiligen). Die paulinische Lehre von der Ekklesia als dem Leib Christi deute eine solche Verbindung
zwischen Sakralität und Weltmacht an: "Die Herrscherfunktion bekommt
dadurch ihren Status im corpus
mysticum und ist artmäßig nicht mehr von den Priester- und
Lehrfunktionen unterschieden. Es gibt keine Grenze zwischen dem religiösen
und politischen Bereich." (33)
Ein Kriterium der immanenten Religion
ist die Hierarchie, die von einer göttlichen Spitze ausstrahlt und über die
Staatsämter zu den gehorchenden Untertanen reicht. In Thomas Hobbes Bild vom alles
verschlingenden "Leviathan" findet diese Vergottung des Staates
und seines sichtbaren Repräsentanten, des absoluten Herrschers, ihren
Ausdruck. Weitere Charakteristika der "politischen Religionen"
sind: die "Apokalypse als Offenbarung des Reiches" und die
"heiligen Könige als Gottesmittler und Persönlichkeitsträger der
Gemeinschaft." (64) Alle diese Merkmale charakterisieren nach Voegelin
die drei großen totalitären
Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts: den Nationalsozialismus, den
Faschismus und den Kommunismus.
Die überweltlichen Religionen entwickeln
einen funktionalen Wahrheitsbegriff. Erkenntnis und Kunst sind für das
NS-Regime wahr, wenn sie im Dienste des rassegebundenen Volkstums stehen.
"Von da" – schreibt Alfred Rosenberg – "kommen sie her, da
gehen sie wieder hin. Und ihr entscheidendes Kriterium finden sie alle
daran, ob sie Gestalt und inneren Wert
dieses Rassenvolkstums steigern, es wertmäßiger ausbilden, es
kräftiger gestalten oder nicht." (53) Führer, Volkswille und Gottheit
verbinden sich zu einem Ganzen: "Der Führer formt die Gottesworte um
zum Befehl an die engere Gefolgschaft und an das Volk." (57) Der
Führer ist der absolute Herrscher, ein wandelnder Gott auf Erden. "In
der innerweltlichen Symbolik sind Führer und Volk durchdrungen von
derselben sakralen Substanz, die im einen wie im anderen lebt; der Gott
steht nicht außerhalb, sondern lebt in den Menschen selbst." (57)
Interessant ist, dass Voegelin den "Mythos" des Dritten Reichs,
den Millionen als Offenbarung erlebten, als eine bewusste Konstruktion
wahrnimmt, "um Massen affektuell zu binden und in politisch wirksame
Zustände der Heilserwartung zu versetzen." (53)
Die Politischen
Religionen erscheinen uns als ein sehr wichtiger Beitrag, um das
Phänomen des Nationalsozialismus zu deuten und geistesgeschichtlich
einzuordnen. Erst wenn wir erkennen, dass die modernen totalitären Staaten
des 20. Jahrhunderts (Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus)
religiöse Wurzeln hatten, dass ihre Aktivisten und Mitläufer von religiösen
Motiven angetrieben wurden und dass religiöse Erlebnisse auf ihren
Massenveranstaltungen ekstatisch erfahren wurden, ist es möglich, sich
kritisch mit ihren dogmatischen, liturgischen, ekstatischen und
theokratischen Aspekten auseinander zusetzen.
Klaus Vondung – Magie und Manipulation – Ideologischer Kult und politische Religion
des Nationalsozialismus – Göttingen 1971
Der Voegelin Schüler Klaus
Vondung hat schon 1971 eine interessante Arbeit vorgelegt, in der er den
Nationalsozialismus als eine "politische Religion" untersucht,
welche durch Magie und Manipulation gesteuert wurde. Unter Manipulation
versteht er "die inhaltliche Transformation von Gegebenheiten der
Realität im Bewusstsein zu Entitäten, die es in der äußeren Wirklichkeit
gar nicht gibt, die also imaginative Konstrukte sind oder [....] Inhalte
einer 'zweiten Realität'. Nun wären solche Erscheinungen nicht besonders
bemerkenswert, wenn sie im Rahmen einer privaten Weltanschauung verbleiben
würden; sie haben aber die Tendenz, sozial wirksam zu sein, da die
entsprechenden Personen geneigt sind, ihre Umwelt gemäß dem Bild zu
behandeln, dass sie in ihrem Bewusstsein von ihr entworfen haben.
Signifikant wird das Problem, wenn der skizzierte Typus zur sozial
dominanten Form aufsteigt und die Möglichkeit erhält, Macht auszuüben."
(7) Es wird also der Versuch unternommen, fiktive und imaginative
Vorstellungen (wie zum Beispiel der Jude als die absolute Inkarnation des
Bösen) auf die Wirklichkeit zu übertragen. Nachdem die Imagination die
Bewusstseine von vielen Menschen ergriffen hat, kann sie die Welt nach
ihrem Bilde formen, im Beispielsfalle eine Welt, die in ihrer Existenz vom
Juden als dem Bösen bedroht ist. Hitlers religiöse Motivation zeigt sich
vor allem darin, dass er an erster Stelle einen Krieg gegen das
"Weltjudentum" und nicht gegen die Westmächte oder den
Bolschewismus führt. Er selber nimmt die Realität, wie sie ist, nicht mehr
zur Kenntnis. Das hatte eine Verzerrung seiner Wahrnehmungsfähigkeiten zur
Folge, wie dies General Guderian genau beobachtete: "Er [Hitler] hatte
ein besonderes Bild von der Welt, und jede Tatsache hatte in dieses
Phantasiebild zu passen. Die Welt hatte so zu sein, wie er sie sich
vorstellte: aber in Wirklichkeit war es das Bild einer anderen Welt."
(211) In noch viel größerem Maße als im historischen Faschismus, kommt es
heute im Neo-Faschismus und Neo-Nazismus zu imaginativen Konstruktionen.
Diese befinden sich jedoch noch weitgehend innerhalb des Rahmens privater
Weltanschauungen, d. h. sie üben noch keine, bzw. nur eine sehr geringe
soziale Macht aus.
Da die Verwandlung der eigenen
Imaginationen in Realitäten bewusst betrieben wird, erscheint sie für
Vondung als eine Manipulation und da durch sie eine "Fesselung"
der Menschen an die entsprechende Realitätskonstruktion entsteht, sieht er
darin einen Akt der Magie. "Es spricht einiges dafür, das hier nur
kurz umrissene Phänomen 'Magie' zu nennen und zwar [....] als spezifisch
inhaltliche Manipulation der Realität im Bewusstsein und entsprechend
instrumentelle Manipulation der äußeren Wirklichkeit einschließlich der
Gesellschaftsmitglieder. Sie aktualisiert sich bei sogenannten 'primitiven'
Kulturen in bestimmten Ritualen. Vergleicht man das bereits
durchgearbeitete historische Material mit manchen modernen Erscheinungen,
so kann man feststellen, dass es auch in 'zivilisierten'
Industriegesellschaften Rituale gibt, die als magisch zu analysieren sind.”
(7)
Vondung stellt nun eine Vielzahl von
quasi religiösen Ritualen dar, welche die imaginative Realität des
Nationalsozialismus konstruiert haben. Es ist ein Charakteristikum jeder
Religion, dass sie das Jahr in Feste und den Tag in Feierstunden aufteilt.
Zu bestimmten Zeiten werden Personen und Ereignisse gefeiert, welche für
die entsprechende Glaubensrichtung Symbol- und Kultcharakter haben. Das nationalsozialistische
Jahr wurde eingeteilt in die folgenden Feiertage: Tag der Machtergreifung
am 30. Januar; Verkündung des Parteiprogramms am 24. Februar;
Heldengedenktag 16. März; Verpflichtung der Jugend am letzten März-Sonntag;
Geburtstag des Führers am 20. April; Nationaler Feiertag des deutschen
Volkes am 1. Mai; Deutsche Ostern und Hoher Maien; Muttertag an einem
Mai-Sonntag; Sommersonnenwende am 21. Juni; Reichsparteitag in der ersten
Septemberhälfte; Erntedank Anfang Oktober; Gedenktag für die Gefallenen der
Bewegung am 9. November; Wintersonnenwende am 21. Dezember und Weihnachten.
Hitler selber sinnierte darüber nach, ob er nicht dem NS-Regime nach dem
Kriege eine neuen Kalender bescheren sollte: "Will man bei der
Zeitrechnung bleiben? Oder haben wir die neue Weltordnung als das Zeichen
zum Beginn einer neuen Zeitrechnungen zu nehmen? Ich sagte mir, das Jahr
1933 ist nichts anderes als die Erneuerung eines tausendjährigen
Zustandes."
Neben den Jahres- gab es die
Lebensfeiern (Geburt, Hochzeit, Tod)
die Morgenfeiern (Fahnenhissen). Als "liturgische" Formen
zählt Vondung auf: Bekenntnislieder, Sprechchöre, Thingspiele. Er zeigt,
dass unter dem NS-Regime eine sakrale Sprache und sakrale Musik (Trommelwirbel)
entwickelt wurde. Orte, die mit der Geschichte des Nationalsozialismus im
Zusammenhang standen, wurden konsekriert (Feldherrnhalle in München,
Hitlers Geburtshaus in Braunau). Die Architektur erhielt Sakralcharakter.
So entwarf Albert Speer auf Hitlers
Wunsch für Berlin einen Kuppelbau, in den der Petersdom mehrmals hinpassen
passen sollte. Auch die Aufzüge und Massenveranstaltungen der Partei trugen
Ritualcharakter, Prozessionen wurden durchgeführt, "ewige Wachen"
abgehalten, rituelles Schreiten inszeniert. Es entstand ein mystischer
Fahnenkult. Als höchste Symbol neben dem Hakenkreuz galt die Blutfahne, die
mit dem Blut der Märtyrer des 9. November 1923 benetzt war.
Magie hebt die Trennung von Bewusstsein
und Natur auf. Die Ordnung der eigenen Subjektivität wird als Objektivität
ausgegeben. Das beinhaltet unter anderem die Vorstellung, dass eine
Kontrolle über die Natur durch Gedankenkraft möglich ist. Sigmund Freud war
der Meinung, in der Magie würden psychologische Gesetze an die Stelle der
natürlichen gesetzt: "Das Prinzip, welches die Magie, die Technik der
animistischen Denkweise regiert, ist das der 'Allmacht der Gedanken'."
(Freud, 1956, 90) Die Realität soll sich dem Gedanken beugen, die
Geschichte dem Mythos. Bilder der eigenen Phantasie werden der Wirklichkeit
aufgeprägt. Die Realität wird nicht mehr so, wie sie ist, wahrgenommen,
sondern im Sinne der politischen Religion manipuliert. Magie und Technik
gingen unter den Nazis eine Symbiose ein. Ihre Großveranstaltungen sind
auch technische Meisterwerke optischer und akustischer Effekte, hinter der
magischen Faszination stehen ebenfalls Beleuchtungsspezialisten,
Requisiteure und Bühnenarchitekten. Kunst, Magie und Wirklichkeit fließen
ineinander: "Träumt man, oder ist es Wirklichkeit?" – fragt ein
Berichterstatter angesichts einer der spektakulären Partei-Inszenierungen.
(z. b. Vondung, 1971, 192) Der Mensch wird gebannt, oder wie es Giordano
Bruno nennt, "gefesselt".
Das von der NS-Ideologie entworfene Bild
– meint Vondung – entspreche nicht der äußeren Wirklichkeit es habe den Charakter
einer "zweiten Realität". (193)
Vondung zeigt jedoch nicht genügend auf, dass bei einer ständigen
Indoktrinierung tatsächlich eine Metastase der Wirklichkeit im Sinne der
sozialpolitischen "Magier" stattfindet.
© Victor & Victoria
Trimondi
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