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Geschlechterkrieg - Geschlechtersieg


Victor und Victoria Trimondi

 

POLARITÄT  UND  TANTRISMUS

 

So überraschend das nach unserer kritischen Analyse des Vajrayana auch klingen mag, wir möchten am Ende die Frage aufwerfen, ob nicht gerade der tantrische Buddhismus in sich ein religiöses Urbild birgt, dessen Enthüllung, dessen Verbreitung und dessen Erörterung ein großes transkulturelles Interesse auslösen könnte. Wäre es nicht wertvoll, solche tantrischen Prinzipien wie die "mystische Geschlechterliebe", die "Vereinigung des männlichen mit dem weiblichen Prinzip", die unio mystica zwischen Gott und Göttin als einen religiösen Entwurf zu diskutieren?


Der Tantrismus beruht in all seinen Ausdrucksformen - wie wir zu Beginn unserer Studie gezeigt haben - auf einer Vision von der Polarität des Seins. Er sieht in einer mystischen Konjunktion der Pole, konkret in der mystischen Vereinigung der Geschlechter das primäre Kultereignis des Erleuchtungsweges. Alle Phänomene des Universums sind nach tantrischer Vorstellung durch Eros und Sexus miteinander verbunden und unsere Erscheinungswelt gilt als das Wirkfeld dieser beiden Grundkräfte (Tibet. Yab und Yum; chin. Yin und Yang). Sie manifestieren sich als Polarität in der Natur ebenso wie in den Sphären des Geistes. Die Liebe ist - nach tantrischer Sicht - die große Lebenskraft, die durch den Kosmos pulsiert und zwar primär als die doppelgeschlechtliche Liebe zwischen Gott und Göttin, zwischen Mann und Frau. Ihre gegenseitige Zuneigung wirkt als das Schöpfungsprinzip.

 

"Es ist durch die Liebe und angesichts der Liebe, daß sich die Welt entfaltet, durch die Liebe findet sie ihre ursprüngliche Einheit und ihre ewige Nicht- Trennung zurück." - auch das verkündet ein Satz des Vajrayana. (* Faure, 56) Für einen Tantriker sind erotische und religiöse Liebe nicht getrennt. Sexualiät und Mystik, Eros und Agape (spirituelle Liebe) bilden keine sich ausschließende Widersprüche.

 

Wir wiederholen noch einmal die schönen Worte, mit denen tantrische Texte die "Heilige Hochzeit" zwischen Mann und Frau beschreiben: Im Yuganaddha (der mystischen Vereinigung) gibt es "weder Zustimmung noch Ablehnung, weder Sein noch Nicht-Sein, weder Vergessen noch Erinnern, weder Verhaftung noch Nicht-Haftung, weder Ursache noch Wirkung, weder Hervorbringen noch Hervorgebrachtes, weder Reinheit noch Unreinheit, weder Form noch Formlosigkeit; es besteht allein in der Synthesis all dieser Dualitäten". (* Dasgupta, 1974, 114) In dieser Synthesis wird "das Ego abgeschafft und die beiden polaren Gegensätze vereinen sich in einem Zustand von warmer und vertrauter Verzückung." (* Walker, 85)

 

An die Stelle des Kampfes der Gegensätze (oder Geschlechter) ist jetzt die Kooperation der Pole getreten. Körper und Geist, Eros und Transzendenz, Gefühl und Verstand, Sein (Samsara) und Nicht-Sein (Nirwana) feiern Hochzeit. Alle Kriege und Kontroversen zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle, Tag und Nacht, Traum und Wahrnehmung, Freude und Leid, Lob und Verachtung werden im Yuganaddha - so heißt es - pazifiziert und aufgehoben. Die Umarmung des männlichen Buddha mit dem weiblichen Buddha feiert Miranda Shaw als "ein Bildnis der Einheit und der glückseligen Übereinstimmung zwischen den Geschlechtern im Zustand des  Gleichgewichts und der gegenseitigen Vereinigung. Dieses Symbol bringt machtvoll die Ordnung ursprünglicher Ganzheit und Vollendung zum Vorschein." (* Shaw, 1994, 200)

 

Der göttliche Eros führt nicht nur zur Erleuchtung und Befreiung sondern die mystische Geschechterliebe kann - auch das ist tantrische Anschauung - alle leidenden Wesen befreien. Aus dem göttlichen Urpaar entsteht die Zeit in all ihren Ausdrucksformen. Sonne und Mond und die "strahlenden Planetenpaare" ebenso wie die fünf Elemente verdanken ihr Erscheinen dem kosmogonischen Eros. "Durch die Vereinigung des männlichen mit dem weiblichen Sexualorgan (wird) die Einheit im Eros hergestellt." - heißt es im Hevajra Tantra - "Aus dem Kontakt in dieser erotischen Vereinigung, als der Qualität der Härte, entsteht das Element Erde; Wasser kommt aus den Flüssigkeiten des Samens; Feuer aus der Reibung beim Geschlechtsakt; Luft bildet sich aus der Bewegung und das Raumelement aus der erotischen Freude." (* Farrow, 134) Die Sprache, die Gefühle, die Sinne - alles hat seine Ursache in der Liebe des Urpaares. "In der von Finsternis gereinigten Welt steht ein Paar am Ende der Finsternis." - heißt es selbst im Kalachakra Tantra. (* Banerjee, 1959, 24)

 

Dennoch wird - und das haben wir seitenlang nachgewiesen - dieses harmonische Urbild durch die tantrischen Rituale zu spirituellen und profanen Machtzwecken einer androzentrischen Mönchskaste mißbraucht. Wir ersparen uns, die sexualmagische Ausbeutung durch den Vajrayana noch einmal zu beschreiben, sondern wollen zum Schluß auf eine philosophische Frage, die das Thema aufwirft, eingehen, nämlich auf das Verhältnis des EINEN (als dem männlichen Prinzip) zum ANDEREN (als dem weiblichen Prinzip).

 

Das Thema des ANDEREN ist seit Friedrich Hegel zu einem  Königsthema des philosophischen Diskurses geworden. Das absolut EINE oder der absolute Geist kann nichts ANDERES neben sich dulden. Erst wenn das ANDERE völlig in das EINE integriert ist, erst wenn es im EINEN "aufgehoben" wurde, ist der Weg des Geistes vollendet. Dann ist die Natur (das ANDERE) zum Geist (das EINE) geworden. So könnte man in knappen Worten einen Grundgedanken der hegelschen Philosophie beschreiben.

 

In der Terminologie des Vajrayana stellt der androgyne ADI BUDDHA das absolut EINE dar, das nichts ANDERES (weibliches) außerhalb seiner selbst zuläßt. Das ANDERE (weibliche) verliert unter der Herrschaft des EINEN (männlichen) seine Autonomie. Es wird mit einem Wort vernichtet. Durch ein ANDERES (weibliches) würde das absolute EINE des ADI BUDDHA radikal in Frage gestellt, sein Anspruch auf Unendlichkeit, auf Kosmozentrizität, auf Allmacht und Göttlichkeit wäre bedroht. "Alles ist EINES oder alles ist der ADI BUDDHA!" - ist eine Grundmaxime des tantrischen Weges. Aus diesem Grunde versetzt das ANDERE  das EINE in Furcht und Schrecken. Der Buddhist Ken Wilber (ein Propagandist des ADI BUDDHA Prinzips) zitiert in diesem Kontext die Upanishaden: "Wo immer ANDERES ist, da ist Furcht." (* Wilber, 1990, 174) - und bekennt selbst: "Doch überall wo es ein ANDERES gibt, ist auch Angst." (* Wilber, 1990, 280)

 

Hinter dieser existentiellen Angst vor dem ANDEREN verbirgt sich - wie schon angedeutet - eine prinzipielle Geschlechterthematik. Diese wurde vor allem von französischen Feministinnen aufgegriffen und theoretisch verarbeitet. Simone de Beauvoir sah in der "Andersheit" (autruité) des Weiblichen noch eine höchst problematische Fixation der Frau durch den androzentrischen Blick. Der Mann wollte die Frau als das ANDERE sehen, um sie beherrschen zu können. Sie war gezwungen ihre Identität über den Blick des Mannes zu definieren. Nachfolgerinnen Beauvoirs dagegen, wie zum Beispiel die Feministin Luce Irigaray, haben der "Geschlechterdifferenz" und AUTRUITÉ (Andersheit) eine höchst positive Bedeutung gegeben und sie zum Zentralthema ihrer femininen Philosophie gemacht. Die Andersheit wird hier geradezu zu einer weiblichen Welt, die weder durch den männlichen Blick noch durch die männlichen Vernunft zu fassen ist. Sie entzieht sich jeder maskulinen Fixierung. Die weibliche Subjektivität ist der männlichen nicht zugänglich.

 

Gerade die Andersheit macht es den Frauen möglich, ihre Autonomie zu wahren. Sie entziehen sich dadurch der Verobjektivierung durch den Mann (das männliche  Subjekt) und entwickeln ihre eigene Subjektivität (das weibliche Subjekt). Irigaray spricht sehr klar aus, wie der Frau von bestehenden Religionen der Zugriff auf die eigene Ichwerdung versperrt wird: "Sie muß immer für den Mann verfügbar sein als dessen Transzendenz!" (zit. b. June Campbell, 155) - das heißt als Sophia, Prajna, als "weiße Jungfrau", als Wissensdakini (Inana Mudra). Sie ist für das männlichen Bewußtsein ohne eigene Subjektivität, eine leere Leinwand (Shunyata), auf die der Mann seine Imaginationen projiziert.

 

Die Autonomie des ANDEREN braucht jedoch keineswegs als Trennung, Fragmentierung, Mangel oder als ein Moment der Entfremdung erfahren zu werden. Sie kann genauso umgekehrt als die Voraussetzung für die Vereinigung von zwei Subjekten, als gegenseitige Ergänzung oder als Copula dienen. Männliches und Weibliches haben die Möglichkeit, sich als Dualität (sich einander ausschliessende Gegensätze = Vernichtung des ANDEREN) wie als Polarität (sich einander ergänzende Gegensätze = Begegnung mit dem ANDEREN) völlig unterschiedlich zueinander zu verhalten. Es ist geradezu eine Gnade, daß es den Geschlechtern grundsätzlich erlaubt ist, sich  in Liebe zu begegnen, ohne auf ihre Autonomie verzichten zu müssen. 

 

Im buddhistischen Tantrismus geht es jedoch nicht um eine solche Begegnung von Mann und Frau, sondern allein um die Frage, wie kann der Yogi (als das männliche Prinzip des EINEN) das ANDERE (das weibliche Prinzip) in sich integrieren und für sich durch das Absaugen der Gynergie nützlich machen? Um das gleiche nur mit umgekehrtem Vorzeichen geht es dem okkulten Feminismus: wie kann sich die Yogini (hier als das weibliche Prinzip des EINEN) die Andronergie des Mannes (hier als das ANDERE) zur Akkumulation von gynandrischer Macht aneignen.

 

Die Aneignung des ANDEREN (der Göttin) durch das EINE (den ADI  BUDDHA) ist der philosophische Kerngedanke des buddhistischen Tantrismus. Er ist damit ein Phänomen, welches in dieser Allgemeinheit auch die westliche Kulturen und Religionen bestimmt: "Das männlich Religiöse maskiert eine Aneignung." - schreibt Luce Irigaray - "Diese unterbricht die Beziehung zum natürlichen Universum, ihre Einfachheit wird pervertiert. Sicher, dieses Religiöse versinnbildlicht ein von Männern organisiertes soziales Universum. Aber diese Organisation ist auf einem Opfer gegründet: dem der Natur, dem des geschlechtlichen Körpers, insbesondere dem der Frau. Es erzwingt ein von seinen natürlichen Wurzeln und seiner Umwelt abgeschnittenes Spirituelles. Es kann daher die Menschheit nicht zur Vollendung bringen. Spiritualisieren, Sozialisieren, Kultivieren erfordert, daß man von dem, was ist, ausgeht. Das patriarchale System tut dies nicht, weil es das, worauf es gegründet ist, auslöschen will." (* Irigaray, 1991, 33)

 

Die Lösung des Mysterienrätsels, das uns der Tantrismus aufgibt, liegt auf der Hand. Es kann nur um die Vereinigung der beiden Pole nicht um ihre gegenseitige Beherrschung gehen. Der (männliche) Geist genügt nicht allein, um "ganz" zu werden, sondern Natur und Geist, Gefühl und Verstand, Logos und Eros, Frau und Mann, Gott und Göttin, ein männlicher und ein weiblicher Buddha als zwei autonome Wesen müssen mystische Hochzeit (als Yab und Yum; Yin und Yang) feiern, als zwei Subjekte, die zu einem WIR verschmelzen. Der ADI BUDDHA des Kalachakra Tantra dagegen ist ein göttliches SUBJEKT (ein SUPER ICH), das versucht  das ANDERE (die Göttin) zu verschlingen. Erst wenn das EINE SUBJEKT mit einem ANDEREN SUBJEKT eine Copula bildet, kann eine wirklich neue Dimension (im WIR) betreten werden: Das große WIR, in dem beide Ichs, das männliche wie das weibliche, wirklich "aufgehoben" werden, wirklich "bewahrt" und wirklich "transzendiert" werden. Vielleicht ist dieses WIR das kosmische Geheimnis, welches an den tiefsten Stelle der Tantras zu entdecken ist, und nicht der ADI  BUDDHA?

 

Denn im WIR verschmelzen alle Polaritäten des Universums, das Subjektive und das Objektive, das Herrschen und das Dienen, die Vereinigung und die Trennung. Die unio mystica mit dem Partner beziehungsweise der Partnerin löst die individuelle und die transpersonale Subjektivität (das humane Ego und das göttliche Ego) auf. Beide Pole, der männliche wie der weibliche, erleben ihre geistige, psychische und physische Einheit als Intersubjektivität, als Austausch, als WIR. Sie verbinden sich zu einer höheren Dimension, ohne sich zu vernichten. Das mystische WIR bildet deswegen eine umfassendere Erlebnisqualität als das mystische EGO des ADI  BUDDHA, das versucht, das ANDERE (die Göttin) zu schlucken.

 

Würden sich Mann und Frau selber als komisches Zentrum, als Gott und Göttin erfahren - wie es in den tantrischen Texten zu lesen ist -, würden sie sich gemeinsam als eine religiöse Instanz erleben, dann würde der androgyne Guru als der Übergott aus den "Mysterien der Geschlechterliebe" verschwinden. Die Indologin Doninger O'Flaherty  beschreibt in einem Essay über tantrische Praktiken mehrere Varianten der Androgynität und ergänzt diese - nicht ohne einen ironischen Unterton - durch ein weiteres "androgynes" Modell, das im Grunde gar keines ist: "Ein dritter psychologischer 'Androgyn'," - so die Autorin - "weniger eng mit irgendeiner Doktrin verbunden, findet sich nicht in einem einzigen Individuum sondern in zweien: dem Mann und der Frau, welche sich in perfekter Liebe miteinander verbinden - Shakespeare's Tier mit zwei Rücken. Dies ist das Bild der ekstatischen Vereinigung, eine andere Metapher für die mystischen Vereinigung mit der Gottheit. Dies ist das romantische Ideal der vollendeten Vermischung, des einen mit der anderen, sodaß jeder die Freude des/der anderen erfährt und nicht mehr weiß, wem von beiden die Hand gehört, die einen zärtlich streichelt, oder von wem die Haut ist, die gestreichelt wird. In diesem Zustand, erleben der Mann und die Frau im 'tantrischen' Experiment des anderen Freude und Schmerz. Dies ist der göttliche Hierosgamos (die mystische Hochzeit) und in seinen verschiedenen Manifestationen - als Yab und Yum,  Yin und Yang, Animus und Anima - ist es sicherlich das am weitesten verbreitete 'androgyne' Konzept." (* O'Flaherty, 1982, 293)

 

Gemeinsam - so lehrt uns trotz allem der Tantrismus - konzentrieren Mann und Frau in sich die Macht, getrennt sind sie ohnmächtig. Das WIR bedeutet gleichermaßen Machtzuwachs und Machtverzicht. Im WIR verdichten sich die beiden Urkräfte (männlich - weiblich) des Seins. Insofern ist das WIR absolut, die Omnipotenz. Aber zur gleichen Zeit begrenzt das WIR die Macht der Teile, sobald sie getrennt auftreten oder für sich als Einzelgeschlecht (als androgyner Übergott oder als gynandrische Übergöttin) den Kosmos beanspruchen. Insofern ist das WIR in seinem Kern relativ. Es ist nur dann effektiv, wenn sich die zwei Pole komplementär verhalten. Schon gar nicht kann das WIR, als das höchste Prinzip, etwas ANDERES mißbrauchen und zu seinen Zwecken manipulieren, denn jedes ANDERE ist per definitionem ein autonomer Teil des WIR. Politisch gesehen repräsentiert das WIR ein Grundprinzip der Demokratie. Es  überwindet jegliches Feindbilddenken und den Krieg. Die traditionellen Dualismen von Oben und Unten, Weiß und Schwarz, Hell und Dunkel vereinigen sich im WIR zu einer schöpferischen Polarität.

 

Das androgyne Prinzip des buddhistischen Tantrismus führt - das haben wir sowohl aus der rituellen Logik des Vajrayana als auch empirisch aus der Geschichte des tantrischen Buddhismus (insbesondere des Lamaismus) nachweisen können - unvermeidlich zu Menschenopfern und Kriegen. Am Ursprung jedes Krieges steht ein Geschlechterkampf - dieser Satz aus der griechischen Mythologie gilt im besonderen Maße auch für den Tantrismus, der das Weltgeschehen aus dem Eros ableitet. Folgt daraus nicht durch einen Umkehrschluß, daß der Friede zwischen den Geschlechtern den Frieden in der Welt hervorbringen kann? Globale Verantwortung entsteht aus der gegenseitigen Anerkennung und dem Respekt vor der Stellung des Partners als der anderen Hälfte des Ganzen. Mitgefühl, Sensitivität für alles andere, Verständnis, Harmonie - alles hat hier ihren Ursprung. Ludwig Klages sieht im kosmogonischen Eros zwischen zwei Menschen eine umwälzende Macht, die die Kraft hat, selbst die "Geschichte" aufzuheben: "Geschähe das Unerhörte indes auch nur zwischen zweien aus Hunderten von Millionen, so wäre die Fluchmacht des Geistes gebrochen, der entsetzliche Angsttraum der 'Weltgeschichte ' zerränne', und es 'blühte Erwachen in Strömen des Lichts'." (* Klages, 198) Das Ende der Geschichte durch die Liebe von Mann und Frau, Gott und Göttin - ein Gedanke, welche sich durchaus mit einer tantrischen Philosophie vereinbaren ließe - wenn da nicht die ultimative männliche Usurpation durch den Yogi ins Spiel käme.

 

Vielleicht - so wollen wir etwas weiter spekulieren - könnte die mystische Geschlechterliebe das Mysterium für eine universelle  "Kultur des Eros" darstellen, die sowohl auf sinnlichen als auch spirituellen Grundlagen aufbaut? Eine solche Idee ist keineswegs neu. Ende der 60er Jahre hat der amerikanische Philosoph Herbert Marcuse in seinem Buch Eros and Civilization einen "erotischen" Kulturentwurf skizziert. Leider ist mittlerweile sein - so würden wir heute sagen -"paradigmatischer" Ansatz, der Ende der 60er in aller Munde war, völlig in Vergessenheit geraten. Zu den fundamentalen Freuden der menschlichen Existenz gehört nach Marcuse "die Teilung in Geschlechter, der Unterschied zwischen männlich und weiblich, zwischen Penis und Vagina, zwischen Du und Ich, ja sogar zwischen Mein und Dein, und sie sind höchst erfreuliche und befriedigende Teilungen, oder sie können es sein; ihre Abschaffung wäre nicht nur ein Wahn, sondern ein Alptraum - der Gipfel der Unterdrückung." (* Marcuse, 239)

 

Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig es in der menschlichen Kulturgeschichte der  mystischen Geschlechterliebe gelungen ist, sich als archetypisches Bild zu verankern. Obwohl das Mysterium der Liebe zwischen Mann und Frau von Milliarden von Menschen praktiziert und erlebt wurde und wird, obwohl die meisten Kulturen männliche und weibliche Gottheiten kennen,  ist der Unio Mystica der Geschlechter die Anerkennung als Religion weitgehend verwehrt geblieben. Dabei spricht unendlich viel dafür, daß die Harmonie und die Liebe zwischen Mann und Frau (Gott und Göttin) das Gewicht eines universellen Paradigmas erhält. Selektierte Einsichten und Bilder aus den Mysterien des tantrischen Buddhismus dürften beim  Herausbilden eines solchen Paradigmas sehr nützlich sein.

 

Göttliche Paare, auch wenn ihre religiöse Verehrung nicht zu den zentralen Mysterien zählen, lassen sich in allen Kulturen entdecken.  Auch in  der vorbuddhistischen Mythologie Tibets begegnen wir ihnen, wobei sich beide Geschlechter die Herrschaft über die Welt gleichberechtigt teilen. Matthias Hermanns nennt Khen pa, den Herrscher des Himmels, und Khon ma, die Erdmutter, und zitiert folgenden Satz aus einem einheimischen Schöpfungsmythos der Tibeter: "Zunächst sind Himmel und Erde wie Vater und Mutter." (* Hermanns, 1965, 72) Bei den tibetischen Urkönigen kannte man einen Gott des Mannes (pho-lha) und eine Göttin der Frau (mo-lha) Mehrere innerasiatische Mythen sehen Sonne und Mond als gleichwertige Mächte an, wobei der Sonne die männliche Rolle, dem Mond die weibliche zugestanden wird. (* Bleichsteiner, 19) Licht und Dunkelheit gelten in einem Bon Mythos als das kosmische Urpaar. (* Paul, 49)

 

Im tantrischen Buddhismus ist das bei den Nyingmapa Schule verehrte zentrale buddhistische Paar, Samantabhadra und Samantabhadri, übersetzt - das "höchste männliche Gute" und das "höchste weibliche Gute" eine solch potentielle Urgestalt. Dieses Buddhapaar wird in einer Yab - Yum Haltung dargestellt. Beide Partner sind nackt, das heißt rein und frei. Keiner von den beiden trägt irgendwelche Symbole mit sich, die auf irgendeine dahinter verborgene magisch-relgiöse Absicht hinwesen könnten. Samanthabdra und Samanthabadri stehen - so könnte man ihre Nacktheit interpretieren - jenseits der Symbolwelt und sind deswegen ein Bild der polaren Reinheit, frei von Göttern, Mythen und Insignien. Nur ihre Körperfarben mögen noch als eine Metapher gewertet werden. Samanthabadra ist blau klar und offen wie der Himmel, Samanthabdri ist weiß wie das Licht.

 

Würde man Visionen religiöser Paarverehrung mit buddhistischer Terminologie beschreiben, so könnten aus einem Urbuddhapaar die vier Buddhapaare der vier Richtungen hervorgehen, ohne daß diese mystische Pentade von einem Tantra Meister als androgyner ADI  BUDDHA vereinnahmt werden könnte. In einer nepalesischen Tantra Schrift werden dagegen der ADI  BUDDHA ("höchstes Bewußtsein") und die ADI  PRAJNA ("höchste Weisheit") als der Urvater und die Urmutter der Welt verehrt. (* Hazra, 21) Alle weiblichen Wesen des Universums sind nach diesem Text Ausstrahlungen der ADI  PRAJNA alle männlichen die des ADI  BUDDHA.

 


Der Text ist das letzte Kapitel des Buches Der Schatten des Dalai Lama. Dort finden sich auch in der Literatur-Liste die zitierten Quellen.

 

 

 

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