|     Russland und der Shambhala-Mythos   Zwei Kapitel aus dem Buch von  Emanuel Sarkisyanz „RUSSLAND UND
    DER MESSIANISMUS DES ORIENTS – Sendungsbewusstsein und politischer Chilianismus“ J:C:B:
    MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN 1955   Der ausführliche und sehr
    interessante Fußnotenkatalog ist hier nicht abgedruckt.   Kapitel
    XXVIII Lamaistischer Messianismus und seine
    politischen Wirkungen   Bekanntlich ist im Mahayana die
    Bodhisattva-Idee systematisch entwickelt worden. Wie oben (S. 351) erwähnt,
    würde die Verneinung der »substantiellen
    Identität«,
    welche beiden Fahrzeugen gemeinsam ist 1,
    jegliche Rationalisierung politischer Herrschaft im Sinne des Buddhismus
    ausschließen. Denn diese Verneinung von substantieller Individualität
    schließt in de Philosophie des Mahayana (als Synonym für Atman) auch den
    Begriff eines »Janaka« ein, welcher mit »jemand, der einen anderen
    veranlasst, etwas zu tun«,
    wiedergegeben worden ist 2.
    Im Zusammenhang mit der oben erwähnten, dem Gautama Buddha zugeschriebenen
    dreifachen Verneinung (S. 331) würde dies bedeuten: »es gibt niemanden. der einen
    anderen veranlasst, etwas zu tun« – und wäre mit jeglicher
    Herrschaft unvereinbar. Doch ist Herrschaft – wie erwähnt – im Sinne des
    Karuna-Ideals ideologisch begründet worden, indem universales Mitleid als
    Selbstidentifizierung 3
    des Herrschers mit allen Lebewesen Herrschaft über »andere« zur Erlösung »anderer« – im Sinne des Bodhisattvatums –
    machen sollte 4.    Nach diesem Mahayana-Ideal konnte ein
    Bodhisattva – aus dem Primat des grenzenlosen Mitleids heraus – selbst die »Shila« (Tugend der Begierdenüberwindung)
    verletzen – um »anderer« willen 5. Karuna als
    Motiv sittliche auch das Unsittliche 6.
    (Nach Padmasambhava 7
    sollte als Stufe auf dem Wege der mystischen Einweihung die Unterscheidung
    zwischen Tugend und Laster, Ehrenhaftem und Schändlichem, Gutem und Bösem
    aufgegeben werden 8.)
    Nicht nur sollte der Bodhisattva auf das Eingehen in Nirvana – bevor nicht
    die Erlösung aller vollbracht worden war – verzichten, sondern er konnte
    auch Höllenqualen auf sich nehmen, um andere von ihnen zu befreien, und
    ungerechten Königen sowie Räubern Herrschaft bzw. Besitz gewaltsam
    entreissen.   Ob solche Züge des
    Bodhisattva-Ideals ähnliche sozialpolitische Wirkungen gezeitigt haben, wie
    sie das Prinzip der kollektiven Erlösung bzw. Verdammnis in Russland in
    Russland zeitigte (vgl. S. 115ff.), lässt sich aus Mangel an Unterlagen aus
    dem – jetzt im Prozesse der bolschewistischen Durchdringung befindlichen –
    Gebiet des Lamaismus nicht feststellen 10.   Bezüglich politischer Wirkungen des
    Bodhisattva-Ideals des buddhistischen Herrschertums berichtet die
    historische Überlieferung Tibets vom tibetischen Kaiser Mu-Khri-bean-po
    (770-797 n. Chr.) 11,
    welcher, von diesen Idealen beseelt, den gesamten in seinem Bereich
    vorhandenen Besitz gleichmäßig unter alle seine Untertanen aufzuteilen 12, jedoch diese
    Aufteilung dreimal wiederholen musste, da die Verschiedenheiten zwischen
    den Menschen sich immer wieder in erneuten Ungleichheiten des Besitzes
    auswirkten 13.   Gewisse Züge vom Zukunftsideal des
    Bodhisattva Maitreya (vgl. S. 340f.) enthält die in der lamaistischen Welt
    scheinbar noch heute recht verbreiteten Erwartung des messianischen
    Erscheinens des letzten Herrschers von »Shambhala (sham-bha-la) des Nordens« 14. Dieses Shambhala des Nordens 15 ist ein mythisches
    Land 16 irgendwo weit
    im Norden von Tibet, ein »Land
    der Ruhe«,
    welches besonders mit dem vom Vishnuismus beeinflussten 17 Kalacakra-System 18 verbunden ist 19. Gegenwärtig soll im
    Reiche Shambhala des Nordens sein einundzwanzigster Herrscher regieren 20. Der
    fünfundzwanzigste und letzte König von Shambhala, Rig-dan-Dag-po, aber soll
    einmal – nach gewissen tibetischen Prophezeiungen als Wiederverkörperung
    des Tashi-Lama (Pan-schen Lama) 21,
    schon vor dem 1951 erfolgten chinesischen Einmarsch in Lhasa auf die Seite
    des Kommunismus übergetreten ist – die lamaistischen Völker zu einer Zeit 22, wenn der Lamaismus
    darniederliegen wird 23
    zum letzten und entscheidenden Gefecht gegen die Feinde ihres Glaubens
    führen 24. (In einem
    besonderen Gebet bitten die Gläubigen, in einem zukünftigen Leben in den
    Heeren Shambhalas gegen die Verächter des Dharma mitkämpfen zu dürfen 25.) Noch in den 1940er
    Jahren wurde von Augenzeugen aus der Hauptstadt Tibets über eine
    symbolische Handlung berichtet, welche einen solchen heiligen Krieg gegen
    die Feinde des Buddhismus darstellt. Darin wird nach einem symbolischen
    Siege, womit dem Buddhismus die Ausbreitung über die Welt gesichert werden
    soll, von Herolden das Kommen des zukünftigen Buddhas verkündet 26. Denn mit dem Siege
    der Armeen Shambhalas soll de Buddhismus sich über die ganze Erde
    ausbreiten 27 und
    seine Erfüllung finden. Mit de Niederwerfung der Mächte des Bösen soll er
    das Reich Maitreyas, des künftigen Buddha – dessen Kommen der Lamaismus
    ebenfalls aus dem fernen Norden erwartet 28 – einleiten 29.
    Eine Utopie soll dann auf Erden herrschen 30, durchaus im Sinne der oben erwähnten, mit
    Maitreya verbundenen chiliastischen Erwartungen (vgl. S. 345): »Die Körnerfrüchte werden ohne
    Pflügearbeit auf den Feldern gedeihen. «   George Roerich betont, dass die
    Shambhala-Idee das Grundprinzip des im Lamaismus erwarteten kommenden
    Weltzeitalters 31
    darstellt. Nach seinen in den 1920er Jahren an Ort und Stelle gemachten
    Beobachtungen hebt er hervor, ein okzidentaler Beobachter sei zwar geneigt,
    die Bedeutung de Shambhala-Vorstellung zu unterschätzen und die
    ausgedehnte, sich darauf beziehende Literatur sowie das noch umfangreichere
    damit zusammenhängende mündliche Sagenmaterial in das Gebiet der reinen
    Folklore und de reinen Mythologie zu verweisen, diejenigen aber, die mit
    literarischem und volkstümlichem Lamaismus verraut sind, seien sich der
    großen Macht bewusst, die der Name Shambhala auf die buddhistischen Massen
    Zentralasiens ausübt 32.
       Von der dem Ideenkreise des
    Kalacakra entstammenden Shambhala-Auffassung unterscheiden sich nach ihrem
    Ursprung jene Vorstellungen, die mit der Erwartung der Wiederkehr Kesars,
    des Helden des berühmten gleichnamigen tibetischen und mongolischen 33 (sowie auch
    kalmükischen und burjätische) Heldenepos, verbunden sind 34. Sie scheinen aber in den aus beiden »Sagenkreisen« hervorragenden
    messianisch-chiliastischen Erwartungen zu konvergieren. Denn der in der tibetischen Überlieferung als
    historische Gestalt gedachte 35
    Heldenkönig Kesar soll nach einer
    scheinbar recht verbreiteten Vorstellung
    in Shambhala des Nordens wiedergeboren werden 36. Die an seine Wiedergeburt geknüpften Erwartungen
    zeigen deutlich messianisch-chiliastische Züge, welche in vielem den oben
    (S. 371f) beschriebenen parallel laufen.   Georg Roerich beschreibt seine
    Beobachtungen in Tibet bezüglich der Erwartungen des wiederkehrenden Kesar
    folgendermaßen:   »If on of the family members
    knows how to sing, he may chant the ancient ballad of Kesar, the mighty
    warrior king, who conquered Tibet in the past and is expected to reappear
    in this world to establish the kingdom of righteousness. I remember these
    squatting figures with faces lit by the reflection of fire, talking late
    into the night about the heroic deeds of King Kesar and his seven warrior
    friends. The usual dull expression of the nomad suddenly lights with an
    inner flame that conveys to you better than words, that the ancient martial
    spirit is still glimmering …37.   In Tibet and Mongolia,
    the epic of Kesar is still constantly enriching itself with new songs and
    episodes. New episodes are added to the old groundwork of the ballad and
    messianic ideas attached to the figure of Kesar Khan is said to return
    again to earth and lead the nomad tribes against a powerful enemy who will
    arise to establish the Kingdom
     of Evil 38.   During the
    lengthy stay among the nomads of Hor, the expedition succeeded in
    collecting additional data, which clearly establishes the important fact
    that a new chapter in the voluminous epic of Kesar is about to be written.
    In Mongolia
    also, a new chapter on the future exploits of Kesar is in process of
    creation. The new additions have the character of prophetic songs…   …It seems
    as if the nomad tribes of Mongolia
    and Tibet,
    agitated by some hidden unrest, seek inspiration in the ancient lore of
    their past 39.   For the nomad of eastern and
    northern Tibet,
    the legend of Kesar is not a mere epic, it is his
    religion, his embodied hope for a
    better future which is framed on the
    model of the glorious past« 39.    Über
    den Inhalt der mit Kesars Wiedergeburt verbundenen Erwartungen entnehmen
    wir folgende Stellen aus Alexandra David-Neels englischer Prosaübersetzung
    (und Kürzung) des tibetischen Kesar-Epos. Bevor Kesar aus dieser Welt
    schied, erklärte er:   »Unter
    den Menschen sollen nicht einige mächtig und andere machtlos sein. Es
    sollen nicht einige Überfluss an Reichtum genießen und andere ihn entbehren
    müssen
    ... Möge das Glück in Tibet herrschen! « 41.   Als man ihm aber antwortete, dass
    bei allgemeiner Gleichheit die menschlichen Verhältnisse nicht in Ordnung
    sein könnten sprach Kesar:   »Ich habt mich nicht verstanden.
    Meine Worte sind zu früh ausgesprochen worden 42. Ich werde
    einmal wiederkehren, um sie zu wiederholen« 43.   Um die mit der Erwartung Kesars
    verbundenen Gedankengänge zu verdeutlichen, zitiere ich im Folgenden aus
    den Aufzeichnungen von Alexandra David-Neel über ihre in Tibet über Kesar
    geführten Gespräche:   »...Kesar wird mit seinem Heere aus
    der Mongolei kommen ... um alle diejenigen auszurotten, die sich seinem
    Reiche der Gerechtigkeit widersetzen werden...Plötzlich wird er sich in der
    ganzen Herrlichkeit seiner Macht erheben, und die Menschen mit
    niederträchtigen Herzen werden erzittern...« 44.   »Es gibt nirgends mehr ‚Tschos‛
    (Dharma-Befolgung). An Mönchen fehlt es nicht, aber Geistlichkeit bedeutet
    nicht Religion 45.
    die Brahmanen Indiens, die Popen der Russen, die Patres der Phillings
    (Westeuropäer). die Lamas, sie sind sich alle gleich. Sie gehören Mara (dem
    Bösen); sie betrügen die Dummen, halten sie nieder und machen sie noch
    dümmer... Sie verbreiten falsche Lehren, die den Menschen schaden und
    Leiden verursachen. Was kann man gewinnen, indem man seinen Fuss auf den
    Nacken eines anderen Menschen setzt? Wer so tut, bereitet nur das
    Zerbrechen seines eigenen Nackens unter dem Fuß eines anderen vor, der
    stärker ist als er. Diejenigen, die von den Mächtigen niedergetreten
    werden, haben nicht mehr Dharma in ihrem Herzen als ihre Bedrücker ... Wenn
    sie mächtig werden, verhalten sie sich genau so wie diejenigen, die sie
    jetzt verfluchen ... Wir, die Völker Tibets, der Mongolei und Chinas,
    vermögen den falschen Pfad zu verlassen, denn wir kennen die Gewalt des
    Gedankens und achten sie. Wir wissen noch, wie man im Bewusstsein diese
    Welt verlassen und sie von außerhalb ihrer selbst betrachten kann. Die
    Weißen können dies nicht. Sie können nur Maschinen ausdenken ... und von
    ihren Maschinen werden sie vernichtet werden. Die Zerstörung hat erst
    begonnen und wird sich fortsetzen« 46. (Vgl. S. 174-185; 198 ff., 285 ff., 295, 315,
    324 (Anm. 92), 363f.   Ähnlich sagte zu H. Haslund ein Stammesfürst
    der mongolischen Torguten:   »... For we
    represent the primordial itself, and in the genuine nomad burns the flame
    of the primordial which all people have possessed and which alone confers
    true human happiness… Beyond the most distant borders of our neighbours
    live other peoples who also languish in the pursuit of vain earthly profit,
    but they will have perceived the need of deliverance … they will return to
    seek the primordial spark; they will seek it in nature and they will find
    it among our flocks. From us shall
    come the salvation of mankind. But still for
    many years, until the end of the present kalpa (vgl. S. 310 f.) shall end in a war between the nations which only the
    seekers after truth shall survive…« 47.   In den von A. David-Neel aufgezeichneten
    Gesprächen wird weiter erklärt:   »Wir haben lange geschlummert,
    während Er, der Unbesiegbare, ruhte, doch werden wir zu seiner Rückkehr
    erwachen 48. Zur
    Eroberung der Welt wird er die Millionen von Orientalen, führen die heute
    noch schlummern. Auf der einen Seite werden wir jene unverschämten Weissen
    ... in die See zurückwerfen, auf der anderen werden wir ihre Länder im
    Westen überrennen und überall, wo Kesars Armeen hindurchgezogen sein
    werden, wird nichts, auch nicht ein Grashalm übrig bleiben« 49.   »Er, [Kesar] wird unter uns
    wiedergeboren werden. Die Kraft unserer vereinigten Gedanken 50 wird ihn d.h. [seine
    Wiedergeburt] erzeugen. Er wird das Erzeugnis des Bewusstseins aller derer
    sein, welche die Engländer zu ihren Knechten machen wollen. Die wahre Lehre
    wird gepredigt werden, und diejenigen, die sich weigern, gerecht zu
    handeln, die Herren, die darauf bestehen, Herren zu bleiben, sowie die
    Knechte, die darauf beharren, Knechte zu bleiben und andere in der
    Knechtschaft zu erhalten, [sie alle werden ausgerottet werden]. Der
    dämonische Geist muss zu einem göttlichen werden. Leidenschaftslos werden
    wir töten, um zu heilen«
    51.    Tantrische Ideen scheinen (wie in
    den letzten Worten angedeutet sein mag) in den Kesar-Erwartungen
    mitschwingen.              Wie A. David-Neel berichtet,
    glaubte man (nach dem ersten Weltkrieg) vielfach in Tibet, Kesar sei
    bereits wiedergeboren worden und der Beginn seines Auftretens sei noch vor
    Ablauf von fünfzehn Jahren zu erwarten 52
    (1931 geschrieben).   Dass aber die Erwartungen Kesars
    schon mindestens seit über einem Jahrhundert mit rein politischen Begriffen
    von sozialer Revolution in der lamaistischen Vorstellungswelt verbunden
    ist, dies geht aus einem im Frühjahr 1848 (also unmittelbar unter dem
    Eindruck der europäischen Februar- und Märzrevolution) verfassten Brief
    eines der ersten russisch gebildeten burjät-mongolischen Intellektuellen,
    des Dordži Bansarow, hervor:    »Die Bewohner des Okzidents haben
    jetzt eine Zeit de Wirren. Sie haben jetzt ihre Khane und Herren vertrieben
    und sind zueinander feindlich geworden. Es scheint, so waren auch die
    Zeiten, in denen Kesar Kahn in diese Welt geboren wurde. Wird nicht, nach
    dem Charakter der gegenwärtigen Epoche zu urteilen, Kesar wieder
    erscheinen? Dann werden wir die Möglichkeit haben, unter seinen
    dreiunddreissig Kampfgesellen 53
    zu sein«
    54.   In Bezug auf
    den lamaistischen Messianismus mag die von Alexander von Schelting
    formulierte, von ihm mit Russland und orientalischen Eroberungsreichen
    verbundene Charakteristik eines charismatischen Herscherideals zusammen mit
    Bekehrungs-, Führungs- und Erlöseranspruch gegenüber der Aussenwelt 55 potentielle
    Gültigkeit besitzen.    Kapitel XXIX Russland und der lamaistische Messianismus   Bereits
    vor der russischen Revolution hatte der lamaistische Chiliasmus gewisse ideologische
    Berührungspunkte mit Russlands Messianismus gezeitigt 1. Seit der Zeit der Kaiserin Elisabeth (1741-1762)
    waren die russischen Herrscher Bodhisattvas, bzw. Weiße Taras 2 in den Augen ihrer
    lamaistischen Untertanen 3.   Zu
    größerem Einfluss gelangten solche lamaistischen Vorstellungen in der
    russischen Hauptstadt durch Badmajew 4,
    den am Hofe Alexanders III. und Nikolaus II. beliebten und recht aktiven
    exotischen Arzt. In einem Denkschreiben, das er 1893 Alexander III.
    übereichte, betonte er, wie sehr die »Weißen Zaren« in der lamaistischen Welt als
    Verkörperungen der Tara verehrt würden und dass eine Prophezeiung erklärt
    habe, sieben Jahrhunderte nach Džingis-Khan würden aus dem Gebiete
    Russlands (vgl. S. 380 f.) »weiße
    Banner«
    hervorbrechen; die Mongolei müsse dem Weißen Zaren untertan werden 5. Denn die ganze
    lamaistische Welt und Asien überhaupt setze auf ihn ihre Hoffnungen und
    fühle sich von Russland sowie dessen Kultur und Ideologie angezogen 6. Russland solle sich
    mit China verbünden und für die Erneuerung des von den Westmächten
    niedergetretenen Reiches der Mitte arbeiten 7. Die über Tibet und die Mongolei herrschenden
    Mandschu aber seien Unterdrücker und müssten durch eine Absorption dieser
    Gebiete durch Russland gestürzt werden, was allein den Aufstieg der
    unterdrückten Mongolen und Tibeter ermöglichen würde; diese sehnten sich
    nach ihrer Befreiung durch Russland 8.
    Darum könne Russland ohne Gewaltanwendung asiatische Gebiete assimilieren
    und müsse seine Ausbreitung fortsetzen 9.
    Denn die russische Reichsexpansion in Asien sei (im Gegensatz zu derjenigen
    anderer Mächte) ihrer Überlieferung gemäss nicht unterdrückend, sondern für
    Asien wohltätig; darum würden die Orientalen sich de Herrschaft Russlands
    nicht widersetzen 10.
    Mit  noch mehr Nachdruck berichtete
    Badmajew 1896, er habe während seines Besuches in der Mongolei von
    zahlreichen Lamas Forderungen nach Ausbreitung der Herrschaft des Zaren im
    lamaistischen Zentralasien gehört. Russland müsse (1904) die Kontrolle über
    Tibet als Schlüssel zur gesamten buddhistischen Welt gewinnen 11. (Graf Witte stimmte
    dieser Einschätzung de Bedeutung Tibets zu 12.) Manche der Thesen Badmajews greifen der zwei
    Jahrzente jüngeren Ideologie des Eurasiertums vor 13.   Ähnlich
    schrieb Anfang des 20. Jh. Damba Uljanow, ein Lama der Don-Kalmüken, ein
    Buch in russischer Sprache 14,
    worin er zu beweisen suchte, dass die Romanow-Zaren als Cakravartine (deren
    Welteroberung der universalen Erlösung im buddhistischen Sinne vorangehen
    sollte; vgl. S. 340) anzusehen seien und ihr Stammbaum auf die
    Sucandra-Dynastie von Shambhala (im Sinne des tantrischen
    Kalacakra-Systems; vgl. S. 371, Anm. 18 und S. 371 ff.) zurückgehe. Im
    Januar 1903 wurde Uljanow von Nikolaus II. in Audienz empfangen 15, bevor er sich nach
    Tibet begab, »um
    die Hoffnungen der Tibeter auf Russland und ihren Zorn gegen England zu
    richten«.   Ebenfalls
    um die Jahrhundertwende gewann der burjätische 16 Lama Agvan Dordži (Dordžijew, tibetisch
    Nag-dban-rDo-rJe, ein seinerzeit in der europäischen Presse oft genannter
    Name) entscheidenden Einfluss auf den damaligen Dalai Lama 17,  den er in dessen Kindheit in
    lamaistischen Theologie unterwiesen hatte. Es verbreitete sich in
    Zentralasien die Vorstellung, das traditionell als irgendwo weit im
    Nordwesten 18 oder im
    Norden von Tibet gedachte heilige Land Shambhala sei das Russische Reich,
    und sein Herrscher sei dem Lamaismus ergeben 19, ebenso wie seine burjätischen und kalmükischen
    Untertanen 20. Denn
    Russland entspreche der (in der Kalacakra-Literatur) von Shambhala gegebenen
    Beschreibung, wer dies aber bezweifle, sei ein Feind des Buddhismus 21.  Dordžijew soll das russische Zarentum als
    Träger der buddhistischen Weltreichsidee hingestellt haben: Einjapanischer
    Reisender berichtete, fast jede Tibeter hätte geglaubt, »... that the Tsar will sooner or
    later subdue the whole world and found a gigantic Buddhist Empire« 22. Wie er – selbst ein buddhistischer Mönch –
    besonders betont, entsprang diese Vorstellung den mit dem mythischen
    Shambhala des Nordens zusammenhängenden messianischen Erwartungen 23.   Agvan
    Dordži wude im Oktober 1900 24 und
    im Juli 1901 (das zweite Mal als außerordentlicher Gesandter Tibets 25) von Kaiser Nikolaus
    II. empfangen. In einer Sonderaudienz schlug er dem letzten Zaren, dessen
    Neigung zur Mystik des Orients bekannt ist, vor, Russland solle sich zum
    Befreier Asiens und zum Verteidiger des Buddhismus erklären und dann im
    Zuge seiner Operationen »zur
    Befreiung der geknechteten Völker« südwärts über den Himalaya
    vorstossen 26.   Die
    Mission Dordžijews gab den Anlass zum englischen Einfall in Tibet (1904) 27, welcher zusammen mit
    dem Ausgang des russisch-japanischen Krieges dem Vordringen Russlands in
    Zentralasien Hindernisse vorschob, die erst der Bolschewismus zu überwinden
    vermochte. Die englischen Behörden aber betrachteten die Persönlichkeit
    Dordžijews als wertvoll genug 28,
    um – nach einem sowjetrussischen Bericht – auf seinen Kopf einen Preis von
    20 000 Rupien zu setzten 29.
    Bezeichnenderweise wurden Dordžijews Dienste von de sowjetrussischen Politik
    übernommen 29; sein
    Programm einer russischen Asienpolitik, welches seinerzeit recht
    phantastisch erschien und vom europäisch orientierten Kaiserreich (vgl. S.
    206) nicht ausgeführt worden war 30,
    fand nach dem Sturze des Petersburger Systems Anwendung, wenn dann auch
    marxistische Schlagworte die mystisch-theokratischen ersetzen sollten.
    Doržijew soll von der Kommunistischen Internationalen (1930) zum
    Vorsitzenden einer tibetischen Partei bestimmt worden sein, »die den bestehenden revolutionären
    Gruppen Tibets [!] in eine Partei zusammenfassen sollte« 30a. Dies weist auf eine Kontinuität in Russlands
    Verhältnis zum lamaistischen Zentralasien.   Schon
    bei Kriegsbeginn 1914 diente in der Burjät-Mongolei die von dortigen Lamas
    vollzogene Anrufung der Armeen Shambhalas (vgl. S. 371 bis 373) und des
    Rig-dan- Dag-po dem Kriegseinsatz des Zarenreiches 31, indem die Mobilisierung der Kriegsarbeiten damit
    ideologisch motiviert wurde 32.   Andererseits
    aber konnte, wie die Vorgänge im Altai-Gebiet zeigten, der lamaistische
    Messianismus auch eine Gefahr für die russische Herrschaft darstellen. Denn
    die stark anti-russisch wirkende sogenannte Burkhanistische Bewegung (deren
    Höhepunkt auf Russlands Niederlage im Kriege) gegen Japan folgte und mit
    der Revolution von 1905 zeitlich teilweise zusammenfiel) hatte stark
    messianisch-chiliastische Züge und war mit der Ausbreitung des Lamaismus
    unter den vorher schamanistischen Turk-Stämmen des Altai verbunden 33. Das Nationalepos der
    – irreführenderweise auch als »Oiroten« bekannten – Altai-Türken enthält
    die Vorstellung eines Herrschers, Oirot Khan, welcher sie verlassen hatte,
    doch einmal als ihr Befreier wiederkehren sollte. Bereits in den 1870er
    Jahren traten Anwärter auf die Identität mit diesem chiliastischen  Erlöserkönig auf. 1885 erschien ein Lama,
    der behauptete, Oirat Khan zu sein. Er wurde von den Menschen als Befreier
    begrüßt, jedoch von russischen Behörden »beseitigt«34.    Ein
    weiterer »Oirat-Khan«
    ,
    gleichfalls ein Lama aus der Mongolei, erschien im Jahre 1900 35. Bereits zur Zeit des
    chinesischen Boxer-Aufstandes von 1900 war der Stimmung der Stämme am Altai
    mit chiliastischen Spannungen geladen, und zwar eben unter dem Eindruck der
    messianischen Erwartung des »Oriat
    Khan«,
    der das Reich des Überflusses und Überflusses und Glücks herstellen und die
    Gelbe Lamaistische Kirche 36 aufrichten
    sollte.   Die
    Spannung wuchs gegen das Jahr 1904; Japan wurde beschuldigt, diese
    religiöse Erregung zu politischen Zwecken 
    hervorgerufen zu haben. Tschet Tschelpanow, ein Hirte, der stak
    unter dem Einfluss des aus der Mongolei vordringenden Lamaismus stand,
    verkündete 1904, Oirat Khan habe geboten, »die Verehrung des Burkhan« (mongolisch Burxan = Buddha), die »Weisse Lehre« (Lamaismus), an die Stelle des
    Schamanismus zu setzen; seine Wiederkehr als Erlöserkönig stünde
    unmittelbar bevor 37.
    Obgleich dieser »Burkhanismus« nicht von wirklichen
    Gewalttätigkeiten begleitet war, verursachte er den russischen
    Kolonialbehörden doch große Sorgen und führte schließlich zu einer Panik
    und zu militärischem Vorgehen von russischer Seite 38.   Das
    Verhältnis dieser mit dem Lamaismus zusammenhängenden messianischen
    Erwartungen zu den oben erwähnten Vorstellungen über Kesar und den letzten
    König von Shambhala (vgl. S. 371-375) scheint nicht klar. Dagegen ist
    eindeutig bezeugt, dass im Altai-Gebiet der messianisch erwartete »Oirat-Khan« mit dem Dsungarenkönig Amursena
    (die Dsungaren waren auch als »Orioten« bekannt) identifiziert wurde 39, bzw. mit dem (S.
    385, Anm. 51, erwähnten) Ja Lama 40.
    Während der Revolution von 1917 erreichten diese chiliastischen Erwartungen
    im Altai-Gebiet einen neuen Höhepunkt; im März 1917 traf ein lamaistisches
    Sendeschreiben aus der Mongolei ein, worin verkündet wurde, Amursena werde
    jetzt wiederkehren und seine Herrschaft aufrichten; siebzehn lamaistische
    Mönche würden seinem Erscheinen vorangehen41. Noch in den 1920er Jahren war der Burkhanismus
    teilweise lebendig 38.
    Dem frühsowjetischen Russland galt er als »fortschrittlich Revolutionsbewegung« 41a.   Vom
    Lamaismus ausgehende messianische Vorstellungen haben auch im mongolischen
    Bolschewismus – in dessen Frühzeit – eine beträchtliche politische Rolle
    gespielt, so die Erwartung der Wiedergeburt Amursenas. Dieser Herrscher hatte
    1753-1757 den Verzweiflungskampf der Dsungaren (Westmongolen) gegen das
    Chinesische Reich 42
    scheinbar im Sinne eines heiligen Krieges des Lamaismus geführt 43; er sollte
    wiederkehren, um sein vom Mandschu-Kaiser Chien Lung ausgerottete Volk zu
    rächen, denn ihm wurde die Verheißung zugeschrieben:   »Ich
    entferne mich jetzt in das Land, wo der Weisse Zar regiert. Aber wisse, du
    Mongolei, dass ich wiederkehren und die auf die lastenden Ketten brechen
    werde.. « 44.   Da
    Amursena – als Flüchtling – in Russland gestorben war 45, wurde auch seine Wiedergeburt als Kalmücke des
    Russischen Reiches 46 und
    seine messianische Erscheinung aus Russland her erwartet 47.   »But by the nomads´
    camp-fires one may still hear the heroic exploits of Amursena extolled. The
    descendants of Amursena´s warriors look stern when they tell the legend
    that the liberator Khan will one day reappear in a warrior figure inspired
    by the goods, and the mothers gaze with pride on the children of the tent
    when they sing of the heroes who shall one day rally round Amursena´s
    coming incarnation on the steppes« 48.   Ein
    sowjetischer Bericht behauptet, die Erwartung von Amursenas Wiedergeburt
    sei im westlichen Teil der späteren Äußeren Mongolei mit Vorstellungen von
    radikaler Besserung der sozialen Verhältnisse verbunden gewesen 47. Sie hätte dort dem
    gegen die chinesische Herrschaft gerichteten revolutionären Ausbruch von
    1912 den Boden vorbereitet 49.
    Dies wird bestätigt durch die Memoiren des kaiserlich russischen Gesandten
    in Urga 50, der
    berichtet, der bolschewistische mongolische Partisanenführer Has Bator habe
    als Wiederverkörperung des Amursena gegolten 51 bzw. sich als solche ausgegeben. Auch in der
    heutigen semi-sowjietischen Mongolischen Volksrepublik wird Amursena weiter
    verherrlicht 52.   Der sowjet-kalmükische
    Schriftsteller Amur-Sanan soll in seiner Jugend dem Erscheinen des »Sian-Kün«, »des starken und
    gerechtigkeitsliebenden Mannes, welcher auf Erden allgemeines Glück
    schaffen würde«,
    entgegengesehen haben 53.
    Solche Vorstellungen sind wohl mit dem lamaistischen Hintergrund
    kalmükischen Geisteslebens zu verbinden (vgl. Anm. 1 und 14). Ein
    frühsowjetischer Orientalist behauptete, die Erwartung solcher »grossen Männer«, deren Erscheinen allgemeine
    Seeligkeit schaffen würde, sei »für die Massen des Orients« charakteristisch. Auch behauptete
    er, »eine
    Anzahl von Sagen«
    (kalmükischer Sagen) stellten Lenin als einem solchen »Sian-Kün« dar.   Ähnlich soll nach einer Nachricht
    der »Anglo-Russian
    News«
    die Figur Lenins von sowjetischen Propagandisten im Sinne derartiger, in
    der Mongolei verbreiteter, messianischer Vorstellungen verherrlicht worden
    sein (1929):   »Lanan (Lenin) Bahadur is a
    descendant of Djinghiz Khan 54...
    whose lost teachings he found 55… He wandered about through the deserts and
    steppes until he discovered the lost teachings of Djinghiz Khan at
    Samarqand. These thought him the art of world conquest and from these ha
    also learned that Moscow
    belonged to his ancestors. He conquered the city and recived the old Mongol
    teachings« 56. (Vgl. S281, Anm.1)   Eine mindestens ebenso wichtige
    Rolle scheint in der Frühzeit des mongolischen Bolschewismus die Erwartung
    der Wiedergeburt Kesars – im Sinne der auf das mythische Reich Shambhala
    des Nordens bezogenen messianischen Erwartungen (vgl. S. 371-374. 376 f.) –
    gespielt zu haben. In der Einleitung zur sowjetrussischen Ausgabe des
    mongolischen Kesar-Epos wird dieses als symbolischer Ausdruck eines in der
    mongolisch-tibetischen Welt sich im 17. Jh. zuspitzenden Klassenkampfes,
    eines »sozialen
    Befreiungskampfes der unterdrückten Klassen«, bezeichnet 57.    Ursprünglich achteten die
    Kommunistische Partei und die Sowjetregierung die Kesar-Überlieferung und
    sahen in ihr einen Ausdruck der uralten Sehnsucht der betreffenden Völker
    nach allgemeinem Glück und einem besseren Leben; die Sowjetakademie der
    Wissenschaften lobte den Kesar-Mythos in einem dem Gegenstad gewidmetem
    Buch 58. (Ein Kesar
    verherrlichendes Schauspiel konnte selbst noch 1944 in der Hauptstadt der
    Äußeren Mongolei aufgeführt werden 59.)
    George Roerich berichtete als Ergebnis der Beobachtungen de
    Roerich-Expedition in de Äußeren Mongolei im Jahre 19265/1927:   »In the past great names in the
    Buddhist hierarchy of Mongolia
    and Tibet
    dedicated whole volumes to the doctrine of Kalacakra and Shambhala…   In our days
    a vast oral literature, which sometimes takes the form of prophecies,
    songs, nam-that or legends, and lam-yig or itineraries, comes into being,
    and numerous bards sing the ballad of the future war of Shambhala, which
    will mark the downfall of evil. Let us not diminish the importance of this
    awakening force that is treasured in the tents of the nomads and the
    numerous monasteries of Lamaist central Asia.
    Let us reserve our opinion till the time when all the vast literature of
    Kalacakra will be translated and adequately commented upon and the vast
    oral tradition of Buddhism studied and traced to its source…   For in the
    course of history, it has not only inspired religious movements but even
    moved armies, whose war cry was the name of Shambhala…« 60.    Wie Roerich berichtet, haben die
    mongolischen Soldaten des SukheBator 61(er
    ist von Owen Lattimore als mongolisches Gegenstück zu Lenin bzw. Sun Yat
    Sen bezeichnet worden), welche die semi-sowjetische »Volksrepublik der Äußeren Mongolei« (nach 1920) aufrichteten, Gesänge
    über Shambhala gedichtet, die als Kampflieder 62 in der mongolischen Revolution gesungen worden
    sind:   »The song
    begins with the words »Jang
    Shambal-in dayin” or »The War of
    Northern Shambhala« and calls
    upon the warriors of Mongolia to rise for the Holy War of liberating the
    country from oppressing enemies. »Let us all
    die in this war and be reborn as warriors of Shambal-in Khan” goes the song« 63. (Vgl.
    S. 372, Anm. 25.)   Der Glaube an die Identität des
    messianischen Reiches Nord Shambhala und Russlands (vgl. S. 280 f.) konnte
    selbst in Tibet sogar (oder gerade?) nach der sowjetischen Revolution von
    Alexandra David-Neel konstatiert werden:   »...Et c `est
    là une opinion qui devient de jour en jour plus forte parmi les Tibétains –
    les frères d`armes de Gesar sont actuellement réincarnés, pour la plupart,
    en territoire russe 64 «.   Jedoch wird an anderer Stelle von
    David-Neel erwähnt, dass dieser Glaube in Tibet nicht allgemein geteilt
    wurde 65.)   Es darf fast mit Sicherheit
    angenommen werden, dass bei der in den letzten Jahren erfolgten, mit dem
    Ausgang der Revolution in China zusammenhängenden Durchdringung des
    gesamten lamaistischen Asiens durch den Kommunismus 66 traditionelle chiliastische Vorstellungen, wie
    diejenige von Shambhala, eine bedeutende politische Rolle gespielt haben
    und noch immer spielen:   »L`idée de profiter des singuliers rêves messianiques
    qui hante les cerveaux tibétains, ne viendra-t-elle pas aux dirigeants de
    la Chine Nouvelle maintenant réinstallés parmi eux ? Peut-être leur est-elle déjà venue…« 67.   Innerhalb Sowjetrusslands selbst
    ließ noch in den Jahren 1935/1936 Jerbanow, damals Generalsekretär der
    Kommunistischen Partei de Burjät-Mongolei, im lamaistischen Kloster der
    Chorinskij Ajmak (in der Gegend des Baikal-Sees) Massengebete um das
    Erscheinen der Heere von Shambhala abhalten 69. In der frühbolschewistischen – und besonders der
    vorstalinistischen Periode war die Lage des Lamaismus innerhalb
    Sowjetrusslands weniger ungünstig, als sie es später wurde. So bestand ein
    schon in der Zeit Nikolaus II. gegründeter lamaistischer Tempel bei
    Petersburg noch mindestens bis zum Jahre 1929 weiter, unter der Obhut von
    Lamas, die jährlich nach Tibet pilgerten 69, wie in den Tagen des Fürsten Uchtomskij. Hier
    soll im Jahre 1928 Wladimirzew, der berühmte russische Mongolist – und
    Mitglied de sowjetrussischen Akademie der Wissenschaften -, formell zum
    Lamaismus übergetreten sein und dazu ein spezielles Sendschreiben des Dalai
    Lama erhalten haben 70.   Währen der 1920er Jahre unterhielt
    Sowjetrussland durch lamaistische Pilger gewisse regelmäßige Beziehungen
    mit dem abgeschlossenen Tibet. Laut Alexandra David-Neel gewann Russland
    unter dem frühen Bolschewismus sogar etwas von seinem nach 1904 (vgl. S.
    381) verlorenen Einfluss in Tibet wieder 71. Die »Correspondance d´Orient« berichtet 1923, sowjetische
    Agenten seien im Zuge ihrer Operationen im oberen Brahmaputra-Tal mit dem
    Dalai Lama in Lhasa in Fühlung getreten, wobei sie die lamaistische
    Hierarchie zu überzeugen suchten, dass der Kommunismus mit dem Lamaismus
    vieles gemeinsam habe 72.
    Konnte doch in den 1940er Jahren ein Besucher Tibets das soziale Ideal des
    lamaistischen Mönchtums als kommunistische (sic) Theokratie bezeichnen 73. Auch die
    Feindseligkeit der Massen des lamaistischen Mönchtums Tibets 74 gegenüber dem
    Okzident ist in diesem Zusammenhang in Betracht zu ziehen.   Die Hilfe, die in den frühen 1920er
    Jahren durch die Aktivitäten des Lama Zerempil der sowjetrussischen Politik
    im lamaistischen Zentralasien geleistet wurde, ist aus Filchners romanhafter
    Beschreibung in »Sturm
    über Asien, Erlebnisse eines diplomatischen Geheimagenten« seinerzeit recht bekannt geworden.
    Im Sinne eines derartigen Verhältnisses Sowjetrusslands zum Lamaismus 75 wurde 1926 eine aus
    der Burjät-Mongolischen »Autonomen
    Sowjetrepublik«
    kommende  lamaistische Mission in
    Lhasa empfangen 76
    (im Gegensatz zu einer Gruppe burjätischer Pilger, welche 1914 aus dem
    kaiserlichen Russland kommend, von den tibetischen Behörden nicht nach
    Tibet zugelassen wurde 77).
    Nach 1925 konnte ein Landwirtschaftsminister der Burjät-Mongolischen
    Sowjetrepublik von einer Zusammenarbeit mit dem Lamaismus 78 und von dessen »Wandlung zum Sozialismus« sprechen 79.   Überhaupt wurde in der Zeit vor
    1929 die Eingliederung lamaistischer Traditionen in das Sowjetsystem
    erstrebt 80. Auf
    einem im Januar 1927 in Moskau abgehaltenen Kongress des lamaistischen
    Modernismus de Sowjetunion suchte dieser sich mit dem herrschenden
    sowjetischen Regime zu identifizieren, was freilich nicht ohne krasse
    Rationalisierung abging 81.
    Sowohl der erwähnte Agvan Dorži (vgl. S. 380-382) als der sowjetburjätische
    Gelehrte Džamzarano bewerteten damals den Buddhismus als »Religion des Atheismus« (vgl. S. 363 f., 365 mit Anm. 72)
    und behaupteten, es bestehe kein Unterschied zwischen dem buddhistische
    Ideal der Erlösung der Menschheit und demjenigen Lenins 80. Auffallenderweise
    waren ursprünglich viele der hohen Sowjetfunktionäre im lamaistischen
    Zentralasien aus den Reihen der Lamas 82
    oder ehemaliger Lamas rekrutiert 
    - im Falle von Tannu-Tuwa (Westmongolei) seitens des Lama
    Zerindordži 83. Die
    Revolutionäre Volkspartei der Äusseren Mongolei, die sich allmählich zu
    einer Art Filiale der Kommunistischen Partei entwickelte und nach 1920
    unter sowjetrussischen Beistand ausgebaut worden war, erhielt ihre Kader
    aus lamaistischen Klosterschulen 84.   Auch in der von Sowjetrussland
    kontrollierten Äußeren Mongolei wurde eine ähnliche Politik verfolgt und,
    wenigstens nominell, Je tsün tam-pa, der Maidari Khutuktu von Urga, Inkarnation
    des Bodhisattva Maitreya – Verkörperung »aller [chiliastischen] Hoffnungen
    der buddhistischen Mongolei«
    85 (vgl. S. 372, Anm.
    28-50) – zum ersten Staatsoberhaupt gemacht 86. Er blieb es bis zu seinem Tode (1924) 87. Gegen die Nachfolge
    einer neuen Verkörperung Maitreyas in diesem Amt erhob eine Fraktion der
    Revolutionären Volkspartei auch dann noch keine Einwendungen 88. Jedoch wurde dann
    die Verkörperungsreihe der Khubilgana von Urga unterbrochen und kein neuer
    Maidari Khutuktu mehr zugelassen. Seitdem ist der Lamaismus in der Äußeren
    Mongolei weitgehend ausgeschaltet worden 89, ein Schicksal, welches ihn nach 1949 auch in der
    Mongolei ereilte 90.   In Russland selbst verschlimmerte
    sich die Lage des Lamaismus seit de Machtübernahme durch Stalin um das Jahr
    1929 91. In der
    Folgezeit erschienen in der sowjetischen Fachpresse heftige, mit
    Stalin-Zitaten versehene Angriffe gegen die »absurde Theorie von der Identität
    de kommunistischen und der buddhistischen Lehren« 92, und auch amtlich sind solche »neobuddhistischen« Anschauungen seit 1929 verworfen
    und heftig angegriffen worden 92.   Molotow konnte 1956 verkünden, dass
    innerhalb Sowjetrusslands der Lamaismus beseitigt sei 94. Dennoch war am Vorabend des Zweiten Weltkrieges
    der Lamaismus in der Burjät-Mongolei noch immer ein Faktor, mit welchem die
    stalinistischen Machthaber rechnen mussten. 95 und den es zu bekämpfen galt. Im Zuge dieser
    Politik wurde Jerbanow 96 –
    jener Sekretär de Kommunistischen Partei der Burjät-Mongolei, der noch
    1955/1956 Massengebete um das Erscheinen der Heere von Shambhala (zum
    chiliastischen Entscheidungskampf) abhalten ließ (vgl. S. 387)  97
    – nicht zuletzt wegen solcher »trotzkistischen Verbrechen« während der großen »Reinigungsaktion« von 1957 »liquidiert« 98. Kürzlich hat eine führende sowjetrussische
    Zeitschrift die auf die Kesar-Idee Hoffnung setzende Elemente der
    Burjät-Mongolei (vgl. 376 f., 375, Anm. 35) heftig angegriffen 99. Der Kult Kesars in
    dieser autonomen Sowjetrepublik ist mit dem amtlichen Bann belegt worden 100. |