Mittelmeerdebatte
Der
folgende Beitrag wurde in verkürzter Form als Vortrag von Victor und
Victoria Trimondi für eine Konferenz der
Universität Tunis in Hammamet zum Thema „La mondalisation et l’éspace méditerranéan“
(23. bis 25. Oktober, 2008) verfasst. Das „Ithaka-Projekt“ ist ein Beitrag
zur international geführten Debatte über ein neues Kulturparadigma für das
Mittelmeer.
Victor und Victoria Trimondi
Das Ithaka-Projekt
Mediterrane Mythen, Monotheismus
und die Geschlechterfrage
Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt
Konstantinos Kavafis
Seit Nicolas Sarkozy im Juli
dieses Jahres seine „Union für das Mittelmeer“ aus der Taufe gehoben hat,
stößt die schon seit mehreren Jahren diskutierte Frage nach einem
mediterranen Kulturparadigma wieder auf zunehmendes Interesse. Unter
Kulturparadigma verstehen wir die bestimmenden Denksysteme, Dogmen, Mythen,
Symbole, Rituale, Ideologien, Machtstrukturen und Routinen, die den Kern
einer Kultur ausmachen. Abstrakt ausgedrückt richtet sich die moderne,
rationale Gesellschaft nach dem „Paradigma der Vernunft“, die
traditionellen, religiösen Gesellschaften orientieren sich nach ihrem
Dogma, d. h. dem „Paradigma des Glaubens“ und die archaischen
Gesellschaften folgen dem „Paradigma des Mythos“.
In keiner anderen Region der
Welt sind im Laufe der Geschichte so viele, so widersprüchliche, aber auch
so nachwirkende Kulturparadigmen ausformuliert worden wie in den
Anrainerländern jenes Meeres, das die drei Kontinente Europa, Afrika und
Asien sowohl voneinander trennt als auch miteinander verbindet. Das
Mittelmeer ist die Wiege der drei monotheistischen Religionen, die
Geburtsstätte der rationalen Philosophie und des Säkularismus, es ist aber
auch ein unerschöpfliches Schatzhaus mythischer und literarischer Bilder,
deren Symbolkraft bis heute ungebrochen weiterwirkt.
In der aktuellen
Kulturdebatte über ein neues Mittelmeermodell stehen neben den
wirtschaftlichen und politischen Erwägungen das „Paradigma der Vernunft“
und das „Paradigma des Glaubens“ beziehungsweise ihr Verhältnis zueinander
im Zentrum. Diskutiert wird über die Kompatibilität von Religion und
Säkularismus, von traditionellen und modernen Werten und last not least
über die Gemeinsamkeiten der drei abrahamitischen
Glaubensrichtungen. Diskussionen über die mediterranen Mythen stoßen
dagegen auf weniger Interesse.
Diese stiefmütterliche
Behandlung des Mythos muss als ein Defizit angesehen werden und das nicht
nur aus historischen Gründen. Denn trotz der Jahrhunderte langen sozialen
und politischen Dominanz des Christentums, trotz der Säkularisierungsprozesse
seit der Renaissance und der Aufklärung wurden und werden bis heute die
antiken, mediterranen Mythen dazu benutzt, um dramatische Beziehungen
zwischen Menschen und Völkern, insbesondere aber zwischen den beiden
Geschlechtern darzustellen und paradigmatisch festzulegen. Unzählige Werke
des Theaters, der Musik, der Oper, des Balletts, der Malerei und der
Literatur verarbeiten seit Beginn der Neuzeit den römisch-griechischen
Mythenstoff und seine Derivate. Das gilt nicht nur für die Kunst, sondern
auch für diejenigen Wissenschaften, die sich mit der Psyche und dem
Bewusstsein des Menschen auseinandersetzen. Das bekannteste Beispiel
hierfür ist Sigmund Freud, der die Ödipussage zur
zentralen Achse der Psychoanalyse macht, d. h. zu einem Paradigma des 20.
Jahrhunderts. Der Prometheus–Mythos dient Johann Wolfgang Goethe als Bild
für den Aufstand des Citoyen gegen das
Drohnendasein einer aristokratischen Elite. Ein weiteres Beispiel ist
Albert Camus, der mit dem Sisyphus-Mythos seine
Philosophie des heroischen Existenzialismus erklärt. Seit den 70er Jahren
des vorigen Jahrhunderts bedienen sich Feministinnen und
Matriarchatsforscherinnen aus dem mediterranen Mythenschatz, um ihre These
von einem „matriarchalen Paradigma“ in der
vor-griechische Mittelmeerregion wissenschaftlich zu begründen und um
daraus dessen Restauration, das heißt die „Rückkehr der Göttin“, zu
fordern. Eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit der europäischen
Kulturgeschichte und der europäischen Seele ist deswegen immer auch eine
Auseinandersetzung mit Paradigmen, Mythen und Geschichten, die vor vielen
Jahrhunderten in der Mittelmeerregion entstanden sind.
Wie kontrovers und
unvereinbar sich die einzelnen säkularen, religiösen und mythischen
Kulturkreise des Mittelmeeres auch zueinander verhalten mögen, so sind sie
dennoch seit der Bronzezeit der spezifische Ausdruck eines sie allesamt
umfassenden einheitlichen Prinzips. Es handelt sich um Gesellschaften, in
denen Männer und nicht Frauen das Denken, die Dogmen, die Mythen, die
Symbole, die Rituale, die sozialen, politischen und religiösen
Machtstrukturen primär bestimmen. Das Mittelmeer brachte eine hebräischen
Theologie hervor, die das Weibliche aus dem sakralen Raum verdammte und
einen männlicher Gott zum absoluten Herrscher machte; eine griechische
Philosophie, welche die Frauen aus der Debatte ausschloss; ein römisches
Recht, das die Ehegattin mit Leben und Tod dem Willen des pater familias
unterwarf; eine christliche Moral, die Frauen per se als Sünderinnen
brandmarkte; eine islamische Scharia, die die absolute Subordination der
Frauen unter den Mann verlangte. Das verbindende Element all dieser
mediterranen Kulturkreise ist das „patriarchale Paradigma“. Das gilt auch
für die säkularen an Europa orientierten Kulturen, die seit dem 19. Jahrhundert
das Mittelmeer beherrschten. Aber das war nicht immer so: Die
vor-griechischen mediterranen Gesellschaften orientierten sich an einer
Kultur und Religion, die wir heute als „Matriarchat“ bezeichnen.
Auch wenn dies aus
Zeitgründen nur sehr schematisch und verkürzt möglich ist, möchten wir mit
unserem Vortrag zwei Thesen in die Debatte bringen und begründen:
- Alle Mittelmeerkulturen wurden wesentlich
geprägt von der Auseinandersetzung zwischen dem „patriarchalen
Paradigma“ auf der einen Seite und dem „matriarchalen
Paradigma“ auf der anderen.
- Da beide Paradigmen nicht miteinander
kompatibel sind, folgt für ein zukünftiges, friedliches
Mittelmeermodell die Etablierung eines „Paradigmas der
Geschlechterbegegnung“
Zur Begründung unserer Thesen
untersuchen wir einige bekannte mediterrane Mythen, welche die
Gender-Thematik zum Inhalt haben. Unsere Analyse versteht sich weniger als
ein Blick in die Vergangenheit, sondern macht Aussagen über den modernen
Menschen, dessen Bewusstsein, dessen Seele und dessen Unterbewusstsein
immer noch durch Mythen-Muster und religiöse Dogmen geprägt wird, welche in
der Mittelmeerregion entstanden sind.
Die mediterranen Matriarchate
Nicht zuletzt dank
akribischer archäologischer Vergleichsstudien besteht heute ein Konsensus
darüber, dass die Mittelmeerkultur vom späten Neolithikum an bis hinein in
die späte Bronzezeit matriarchalisch war. Tausende von Statuetten und
Symbolbilder der Großen Muttergöttin sind von Archäologen in Syrien, in Palästina, auf
Kreta, auf den Kykladen, in den Pyrenäen, in Spanien, in Anatolien, in
Mazedonien, auf Zypern und auf Malta ausgegraben worden. Die erste
europäische Hochkultur, die minoische, stand unter dem Zeichen der Göttin.
Das „matriarchale
Paradigma“, das vor 4000 Jahren die Mittelmeerregion beherrschte, betonte
die Omnipotenz weiblicher Gottheiten, die als unsterblich, unveränderlich
und allmächtig angebetet wurden. Natur, Mutterschaft und Sexualität standen
im Zentrum des religiösen Lebens. Der Begriff der biologischen Vaterschaft,
das heißt die Rolle des Spermas bei der Befruchtung, scheint in den
Matriarchaten noch wenig bekannt gewesen zu sein. Allein den Frauen wurde
das Mysterium der Geburt und damit der Schöpfung zugestanden. Der Kult der
Göttin stand in enger Beziehung zu den jahreszeitlich bedingten
Veränderungen im Tier- und Pflanzenreich sowie zu den Phasen des Mondes. In
diesen naturhaften Kontext ordnete sich auch das sexuelle Leben ein. Der
Religionsphilosoph Walter Schubart spricht von
einer Religion des Sexus, die sich promiskuisch
und explosiv äußerte und gerade deswegen als sakral empfunden wurde. Bis
tief in die patriarchale Phase hinein überlebten diese Kulte in der
Tempelprostitution des Vorderen Orients.
Neben der Archäologie gilt
die Mythologie als zweite wichtige Quelle der Matriarchatsforschung. Der
englische Schriftsteller und Altertumswissenschaftler Robert Graves
leistete hierbei Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Pionierarbeit. In
seinem Buch „The Greek Myths“
wies er nach, dass eine große Zahl der griechischen Mythen kriegerisch
ausgetragene Konflikte zwischen den patriarchal- und matriarchal-organisierten
Gesellschaften widerspiegeln. Als die griechischen Invasoren vom Norden her
damit begannen, die Region gewaltsam zu kolonisieren, stießen sie auf den Widerstand autochthoner Frauenkulturen. Die Geschichte dieses
Geschlechterkrieges findet nach Graves ihren Ausdruck in Geschichten,
welche von Frauenraub, Frauenopfer, Vergewaltigung und Amazonenkämpfen
erzählen: Der griechische Göttervater Zeus zieht zeugend und schändend
durch die gesamte Mittelmeerregion, immer verfolgt von der Eifersucht
seiner von ihm betrogenen Gattin Hera; das Mädchen, dem Europa seinen Namen
verdankt, wird von ihm in Stiergestalt entführt und geschwängert; sein
Bruder Hades, Herrscher über die Toten, raubt Persephone und verschleppt
sie in die Unterwelt; sein zweiter Bruder Poseidon, Herrscher über die
Meere, vergewaltigt die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter; sein lichter Sohn Apollon vergewaltigt zahlreiche Nymphen und irdische
Frauen, und bestraft diejenigen, die sich ihm widersetzen.
So brachial das Vorgehen der
patriarchalen Mittelmeer-Invasoren (und ihrer Götter) auch gewesen sein
mag, so trafen sie dennoch nicht auf Gesellschaften die friedfertig und harmonisch
waren, wie es Feministinnen heute immer wieder verklärend behaupten. Die
damalige matriarchale Hegemonie der Frauen ist
keineswegs gewaltfrei gewesen. Kriege gab es auch im monoischen
Kreta, wo sie das Sagen hatten. Kriegerköniginnen und Kriegsgöttinnen
kennen wir auch aus vielen vor-griechischen Mittelmeerkulturen. Zudem
gründeten die mediterranen Matriarchate ihre Herrschaft auf der Opferung
des Mannes. Es waren junge Männer, die rituell getötet wurden, um die
religiös-politische Macht der Großen Göttin zu festigen. Viele der
weiblichen Gottheiten des östlichen Mittelmeeres pflegten solche
Opferkulte: die phönizische Tanit, die
kanaanitischen Anath, die phrygischen Kybele. Der
Mythos vom getöteten und wiederauferstanden Gottmenschen, der später das
Christentum prägen sollte, ist matriarchalen
Ursprungs.
Es ist sehr wahrscheinlich,
dass in der frühen Bronzezeit die Männer unter der Omnipotenz und Magie der
Großen Muttergöttin gelitten haben. Die ewige Wiederkehr der rituell durch
Menschenopfer nachvollzogenen Naturzyklen ließ keine Erneuerung, keine
Freiheit, keine Entdeckung, keine Individualität zu. So kam es zu einem
gewaltsamen Aufbegehren der männlichen Stammesmitglieder beziehungsweise
fremder Eroberer gegen die weibliche Bevormundung, gegen das „matriarchale Paradigma“. Evident werden diese anti-matriarchalen Kämpfe in den Mythen, die davon erzählen
wie ein Gott oder ein Held ein weibliches Untier oder ein männliches
Monster, das dem Befehl einer Göttin gehorcht, vernichtet oder versklavt: Zeus
tötet den Typhon, „das größte Ungeheuer, das je das Licht der Welt
erblickte“ und das von der Erdmutter Gaia
hervorgebracht wurde, um sich an dem Vater der olympischen Götter zu
rächen; Perseus enthauptet die Gorgonen-Göttin
Medusa; Apollon unterwirft das Orakel der
Erdmutter, die Pythonschlange, und stellt es in Delphi in seinen Dienst.
Vorgeprägt wurden diese Mythen in der babylonischen Schöpfungsgeschichte,
die erzählt, wie der Lichtgott Marduk die
monströse Meeresgöttin Tiamat tötet und aus ihrem
geteilten Leib unsere irdische Welt baut. Es ist heute unter
Alt-Orientalisten unbestritten, dass die von Göttern und männlichen Helden
bekämpften und bezwungenen Mythentiere die als ungeheuerlich empfundene,
alte soziale Ordnung der Göttin symbolisieren.
Zu Beginn werden wir,
ausgehend von vier prominenten Mythen-Beispielen, deutlich machen, wie sich
das „patriarchale Paradigma“ in der Mittelmeerregion durchsetzte, welche
Sonderformen es in der Auseinandersetzung mit den matriarchalen
Kulturen ausbildete und welche Nachwirkungen diese Formen auf die Jetztzeit
haben:
- Der Muttermord des Orest – das Gründungsopfer
des Patriarchats
- Die gescheiterte Hochzeit von Dido und Aeneas – Der Wille zur Macht siegt über den Eros
und die Liebe
- Die Gottesmutter Maria – ein patriarchales
Substitut der Großen Göttin
- Die Apokalypse des Johannes – eine misogyne
Weltvernichtungsphantasie
Anschließend wollen wir
ausgehend von Homers Odyssee zeigen, dass schon in der Antike das
„Paradigma der Geschlechterbegegnung“ vorgedacht wurde. Aus Zeitgründen
haben wir Beispiele aus dem islamischen und jüdischen Kulturkreis nur ganz
am Rande erwähnt, können aber im Workshop und der Diskussion ausführlicher
darauf zu sprechen kommen.
Der Muttermord des Orest – Das Gründungsopfer des Patriarchats
Kein Mythos hat den
mediterranen Geschlechterkrieg in seiner ganzen Komplexität so authentisch
dargestellt wie die Orestie, aufgeschrieben in der genialen Trilogie
des griechischen Dichters Aichylos. Die Tragödie
gilt als ein dramatisch verarbeitetes Kompendium verschiedener älterer
Mythen. Eine kurze Notiz zum Inhalt: Am Anfang der blutigen
Familientragödie steht ein sakrales Frauenopfer, der rituelle Mord, den der
König Agamemnon an seiner Tochter Iphigenie ausführen lässt, um von den Göttern gute
Wetterbedingungen zu erhalten, damit seine Kriegsschiffe nach Troja segeln
können. Klytämnestra, die Gattin Agamemnons, rächt sich an dem Mörder ihrer Tochter und
tötet ihn, kurz nachdem er mit der Seherin Kassandra als Konkubine und
Sklavin aus den trojanischen Kriegen zurückgekehrt ist. Als Mordinstrument
benutzt sie eine Doppelaxt, die Kultwaffe der Großen Göttin. Klytämnestras Sohn Orest erhebt nun gegen die eigene
Mutter das Schwert, um seinerseits den Vater zu rächen, und schickt sie
zusammen mit ihrem Liebhaber in den Hades.
In den vor-griechischen, matriarchalen Gesellschaften galt der Muttermord als
das verruchteste aller Verbrechen. Als Orest die eigene Mutter tötet,
übertritt er ein Tabu, das die Autorität der alten Göttin und die durch sie
garantierte matriarchale Ordnung schützte. Zwar
verfällt der Muttermörder nach seinem Verbrechen dem Wahnsinn, doch wird er
am Ende erlöst, im Gegensatz zu seiner Komplizen-Schwester Elektra, die bis
zum Tod in geistiger Umnachtung dahinvegetieren muss. Die neuen
patriarchalen Gottheiten des Olymps entsühnen den Sohn und setzen ihn in
der Nachfolge seines Vaters Agamemnon als König
von Mykenä ein. Die weiblichen Prätendenten auf den Thron, Iphigenie und Elektra, werden ausgeschaltet.
Durch den „Muttermord“, das
ist die androzentrische Schlussfolgerung aus der Orestie,
befreit sich das männliche Subjekt aus der matriarchalen
Hegemonie und macht sich zum alleinigen Herrscher. Auch die Frauen
unterwerfen sich schließlich der patriarchalen Bevormundung, denn die
blutrünstigen Erinnyen, die Orest wegen seines Verbrechens verfolgen, werden am Ende der Tragödie
friedliebenden, die Stadt Athen schützende
Eumeniden, und verzichten darauf, Klytämnestra
zu rächen.
Die komplexe, differenzierte
und politische Abhandlung des Geschlechterkrieges in der Orestie hat
bei zahlreichen Kulturwissenschaftlern und Feministinnen zu der Hypothese
geführt, der „Mord an der Mutter“ sei als das gewalttätige Gründungsopfer
zu interpretieren, welches konstitutiv war für die Entstehung der androzentrischen, patrilinearen
Gesellschaftsordnung beziehungsweise für die Festigung des „patriarchalen
Paradigmas“ schlechthin. Nur durch einen solchen blutigen Gewaltakt konnte
die alte matriarchale Ordnung zerstört werden,
die im übrigen – wie wir oben gezeigt haben –
ebenfalls auf einem Opfer, nämlich der rituellen Tötung des Mannes
basierte. Ein Gründungsopfer - so der französische Kulturphilosoph René
Girard – muss ständig repetiert werden, um die von ihm initiierte Kultur
auf Dauer zu festigen. Diese Wiederholungen des Ursprungsmordes können auch
durch stellvertretende Riten oder symbolisch durchgeführt werden. Indem sie
Girards Gedankengang fortsetzt, kommt die
französische Philosophin Luce Irigaray zu dem Schluss, der „Mord an der
Mutter“ (matricide) werde seit Jahrtausenden
symbolisch durch den systematischen und radikalen Ausschluss von Frauen aus
den gesellschaftlichen, politischen und religiösen Machtsphären vollzogen.
Deswegen steht ihrer Meinung
nach der „Muttermord“ auch als verborgenes Symbolfeld hinter den
monotheistischen Religionen, in deren Kultmysterien das Weibliche und die
Göttin keine Präsenz und keine Macht haben. Beispielsweise werde im
Christentum durch das Dogma der Trinität die androzentrische
Omnipotenz und die patrilineare Genealogie als
kosmisches Prinzip festlegt. Gottvater, Gottsohn
und der Heilige Geist gelten dem Dogma nach als männliche Personen. Das
Weibliche dagegen ist sowohl als Prinzip wie als Person aus dieser
trinitarischen Kosmologie verbannt. Auch im Judentum und im Islam lässt
sich die systematische Verdrängung der Göttin und der Frau aus den
religiösen Kulten nachweisen.
Die gescheiterte Hochzeit von Dido und Aeneas
– Macht siegt über die Liebe
Viele der griechisch-römischen
Mythen schildern nicht nur die Vernichtung der alten matriarchalen
Vorherrschaft, sondern richten sich auch gegen Versuche von königlichen
Frauen, ihre Macht mit den Männern zu teilen. Es zählt zu den Stereotypen
in den Mittelmeermythen, dass ein Mann die Liebe opfert, um des Ehrgeizes
und der Macht willen. Jason betrügt Medea, die ihm das goldene Fließ
verschafft, und heiratet eine griechische Prinzessin; Theseus
verlässt Ariadne, die ihn sicher aus dem Labyrinth von Knossos herausgeführt
hat; im Falle von Caesar und Kleopatra wird diese Stereotype sogar zur
Realgeschichte. Der römische Feldherr trennt sich aus machtpolitischen
Erwägungen von der ägyptischen Königin, die ein Kind von ihm gebiert und
die Herrschaft über Ägypten mit ihm teilen möchte.
Literarisch ausgestaltet
wurde das Scheitern der Liebe zugunsten der Macht in der Geschichte von
Dido und Äneas. Die Aeneis
des römischen Dichters Vergil ist die bekannteste literarische Ausführung
dieses Dramas: Äneas, der Sohn der Liebesgöttin
Venus erleidet nach seiner Flucht aus Troja und einer Irrfahrt durch das
Mittelmeer in Nordafrika Schiffbruch und sucht Zuflucht in Karthago, einer
von der phönizischen Königin Dido regierten Stadt. Beide verlieben sich,
entscheiden sich, zu heiraten und die politische Macht miteinander zu
teilen. Jupiter aber verlangt von Äneas, seiner
Bestimmung zu folgen und nach Italien zu segeln, um dort ein neues Reich,
das spätere Rom, zu gründen. Der Held folgt dem göttlichen Willen, verlässt
heimlich, wenn auch widerwillig, seine geliebte Gattin Dido. In ihrer
Verzweiflung verflucht sie Äneas und begeht
Selbstmord auf einem Scheiterhaufen. In Italien erkämpfen sich der Held und
seine Gefährten das Reich Latium. Auch dort begegnet er einer starken
Frauengestalt. Seine erbittertste Gegnerin wird die latinische
Amazonenkönigin Camilla. Aus der Nachkommenschaft des Äneas
stammen Romulus und Remus, die beiden Gründer Roms.
Üblicherweise wird die
Geschichte um Äneas und Dido als ein Konflikt
zwischen Pflicht und Neigung interpretiert. Der Held folgt dem Weg der
Pflicht, um einer höheren Sache, der Gründung Roms, zu dienen. Lesen wir
aber das Drama unter dem Aspekt des Geschlechterkrieges, dann ist auch die Äneis ein Loblied auf den Sieg des Patriarchats.
Besiegt wird aber nicht das Matriarchat als solches, sondern eine Vision,
die beide Geschlechter in die Versöhnung bringen will. Dido will mit Äneas ihre Macht teilen, aber dieser hat nicht den Mut,
mit Dido zusammen Rom zu gründen und gemeinsam mit ihr über Karthago und
Rom zu herrschen, nein - er schleicht sich davon wie ein Dieb in der Nacht,
um allein und als Mann den Weg der Macht und des Krieges zu gehen.
Keinerlei Liebe, kein Bündnis walte zwischen den Völkern, die von uns
abstammen, hatte Dido nach dem Verrat des Äneas
bei der Göttin des Himmels und der Göttin der Unterwelt, bei Juno und
Hekate, geschworen. Mit diesem Fluch gegen den Gründungsvater der
mächtigsten patriarchalen Gesellschaft, die das Mittelmeer jemals
beherrscht hat, kehrt sie zurück in das Reich der alten, matriarchalen Rachegöttinnen.
In der Tat kämpfte Rom in den
punischen Kriegen fast 100 Jahre lang gegen Karthago und machte es im Jahre
146 vor Christus dem Erdboden gleich. In der afrikanischen Stadt wurde in
dieser Zeit die phönizische Göttin Tanit verehrt,
auch wenn Virgil von Juno spricht. Jedenfalls war es eine Matriarchin, die im Zentrum des Kultlebens von Karthago
stand. Der Konflikt zwischen Rom und Karthago trägt deswegen ebenfalls den
Charakter eines Krieges zwischen einer matriarchalen
und einer patriarchalen Ordnung. Somit leitet das imperialistische Rom die
Anfänge seiner Weltherrschaft aus der Vernichtung eines Kulturkreises ab,
der unter dem Zeichen der Göttin stand.
Virgil schrieb die Aeneis als ein Epos auf die Größe Roms und als
Ruhmgedicht auf den ersten römischen Kaiser Gajus
Octavius Augustus, der davon überzeugt war, von
dem trojanischen Helden abzustammen. Symbolisch steht Rom auch heute noch
für die reale Macht des Staates, des Gesetzes, des Rechts, der Bürokratie
und des Militärs. Weitere Bilder und Qualitäten, die wir mit Rom verbinden
sind: Pragmatismus, strategisches Kalkül, planvolle Rationalisierung,
methodisches Denken und Tun, technische und ökonomische Effizienz,
Sachlichkeit, Betonung des Willens, Eroberung, Krieg und Beherrschung der
Natur. Roms realistische Macht- und Staatsauffassung wird am Beginn der
Neuzeit von Nicolo Macchiavelli und von Thomas
Hobbes aufgegriffen und als theoretische Grundlage für den modernen Staat
neu formuliert. Keine Stadt der Antike symbolisiert so klar und eindeutig
das „patriarchale Paradigma“ wie das antike Rom.
Der Symbolwert Karthagos
dagegen ist weniger geläufig. Es wäre jedoch nicht ohne Reiz, genauer zu
untersuchen, ob die mächtige Gegenspielerin Roms als Repräsentantin des „matriarchalen Paradigmas“ angesehen werden kann.
Symbolisch stünde Karthago dann für die Macht der Göttin, für Natur, für
Magie, Gefühl, für sakrale Sexualität und für Opferrituale. Die Aeneis lässt jedoch noch einen anderen Schluss
zu, nämlich dass Karthago unter ihrer Königin Dido eine emanzipierte Stadt
werden sollte, die keinem der beiden Paradigmen folgen sollte, sondern wo
der Versuch unternommen wurde, ein „Paradigma der Begegnung“ oder ein
„Paradigma der Geschlechterliebe“ zu etablieren.
Ein solcher Paar-Entwurf
hätte die sakrale Hochzeit von Dido und Äneas
auch in den Gegensatz zu den traditionell matriarchalen
Kulten der Stadt gebracht. Der britischen Barockkomponist Henry Purcell
spielt in seiner Verarbeitung des Stoffs darauf an. Die von ihm 1685
verfasste und vier Jahre später uraufgeführte Oper Dido
and Aeneas benennt
nicht die olympischen Götter, sondern die Rachegöttinnen (Furien) und
Hexen, die das Liebespaar durch Schadzauber und üble Tricks auseinander
bringen.
Schon 70 Jahre früher (1611)
hatte William Shakespeare im Sturm,
einem seiner berühmtesten Mittelmeerstücke, die Hexe (damn’d witch) Sycorax
als Gegenkraft zu Prospero und damit auch des
jungen Paares (Ferdinand und Miranda), dessen Hochzeit der Magier
vorbereitete, dramatisch herausgestellt. Wir erfahren ebenfalls, dass Lady Macbeth vom Geist der „Dreifachen
Hekate“ besessen war, die sie inspirierte, König Duncan zu töten. Wer sind
diese mediterranen Hexen, welche die Phantasie englischer Künstler der Renaissance
und des Barock so anregten? Colin Still sagt in seinem Buch The Tempest über Sycorax:
Der Text schreibt ihr „alle hervorstechende Attribute zu, mit denen das
mythische Böse Weib ausgestattet ist. Wir haben gesehen, dass sich unter
den vielen traditionellen Versionen des Bösen Weibes die Lilith aus dem Zohar
befindet, ebenso wie die Fremde Frau aus den Sprichwörtern [Bibel], die Große Hure der Apokalypse, die ägyptische Nepthys,
die hebräische Tehum und die chaldäische Omoroca oder Talath, deren
griechisches Äquivalent Hekate ist.“ Das sind alles dunkle weibliche
Gottheiten des Mittelmeeres. Auch Robert (Ranke) Graves, der sich ja
ausführlich mit den mediterranen Geschlechtermythen auseinandergesetzt hat,
sieht in Sycorax den grausamen Aspekt ehemaliger
Göttinnen, die sich rächen wollen, weil sie in der frühen Bronzezeit von androkratischen Kriegerstämmen entmachtet wurden. Eine
an der Archetypenlehre orientierte Sicht steuert Noel Cobb in seiner Deutung des Sturms bei. Sycorax
sei „dieses schmutzige Bild des vernachlässigten Weiblichen, das wütend und
rachsüchtig geworden ist. Sycorax, übergangen und
unsichtbar, bringt eine dunkle Macht und eine Tiefe in das Stück, das
vorher gefehlt hat.“ Vielleicht sind Purcells Hexen als eine eben solche
„dunkle weibliche Macht“ zu verstehen, die sich aber nicht nur gegen die
Männerherrschaft richtet, sondern in diesem Fall auch gegen die Liebe und
Begegnung der Geschlechter als solche.
Wie ein Leitmotiv zieht sich
der Liebesbetrug aus Machterwägungen, wie er in Virgils
Aeneis geschildert wird, durch die gesamte
europäische Literatur. Gesteigert wird diese Dramatik nur noch, wenn beide
Liebenden zusammen an der Macht zerbrechen. Auch das ist ein beliebtes
Sujet der Mittelmeerkultur wie William Shakespeares Stücke Othello
und Romeo und Julia oder
Guiseppe Verdis Aida, um nur ein paar Beispiele aus einer langen
Liste zu nennen.
Da wir uns hier in Tunis,
sozusagen auf dem authentischen Terrain dieses mythischen Ereignisses
aufhalten, möchten wir auch auf eine vergleichbare Geschichte aus dem
islamischen Kulturkreis zu sprechen kommen. Diese Geschichte erzählt, dass
am Ende des 7. Jahrhundert das Schicksal, das Dido erleiden musste, erneut
der Berber-Königin al Kahena
aufgezwungen wurde, die ebenfalls Regentin von Karthago war. Die Truppen
des Kalifen Abd el
Malik machten die Stadt – wie 800 Jahre vorher die Römer – dem Erdboden
gleich. Aber trotzdem gab sich al Kahena nicht
geschlagen. Mit einer Strategie der verbrannten Erde konnte sie die Muslime
in die Flucht schlagen. Wie im Fall von Dido war es wieder eine betrogene
Liebe, die die neue Königin von Karthago zu Fall brachte. Nachdem sie einen
muslimischen Reiter mit dem Namen Khaled Ibn Yezid das Leben gerettet hatte, schwor ihr dieser
ewige Treue. Al Kahena nahm ihn zu ihrem
Geliebten, teilte mit ihm Bett und Herrschaft. Aber Khaled hielt seinen
Schwur nicht und verriet die Königin an den muslimischen Feldherrn Hassan
Ibn Noomane. Ohne Erbarmen ließ dieser ihr den
Kopf abschlagen und warf das Haupt der Königin in einen Brunnen. Es hätte
seine Logik, die Enthauptung al Kahenas als das
Gründungsopfer zur Errichtung des patriarchalen, islamischen Paradigmas in
dieser Region des Mittelmeeres zu interpretieren.
Die Gottesmutter Maria – ein patriarchales Substitut der
Großen Göttin
Auch Männergesellschaften
benötigen Frauen, um ihre Herrschaft zu festigen, auszudehnen und um sich
zu reproduzieren. Frauen und Göttinnen waren unentbehrlich zur
Aufrechterhaltung des Imperium Romanum,
aber sie wurden den männlichen Machtinteressen unterworfen, wie die
jungfräulichen Vestalinnen, die das heilige Feuer der ewigen Stadt hüteten
und die mit dem Tode bestraft wurden, wenn sie sich der sinnlichen Liebe
hingaben.
Ebenso gelang es dem
Christentum, nachdem es Rom und das Mittelmeer erobert hatte, nicht, die
mediterrane Göttin vollständig auszurotten. Die Erinnerung an sie blieb
über die Jahrhunderte hinweg lebendig. Deswegen suchten die Kirchenväter
und Bischöfe nach einem weiblichen Substitut, das ihren patriarchalen
Machtinteressen keinen Schaden zufügte, das aber dennoch die tiefe
Sehnsucht der Menschen nach einer weiblichen und mütterlichen Gottheit
befriedigen konnte. Mit großem Geschick gelang ihnen dies, als sie die
Mutter Jesu, neu entdeckten und sie als heilige Jungfrau, als
Gottesgebärerin und als Heilsbringerin mythisierten. Auf der Synode zu
Alexandrien im Jahre 430 und auf dem Konzil zu Ephesus im Jahre 431 begann
der Siegeszug der Maria. Ephesus ist kein Zufall, dort gab es noch in
frühchristlicher Zeit einen Hochkult der
mediterranen Göttin Artemis. Die ‚große Artemis der Epheser’, wie ihr Titel
lautete, verwandelte sich nun in die ‚große erhabene, ruhmreiche
Gottesmutter Maria’ des Christentums. Bei dieser Metamorphose änderte die
alte Göttin aber nicht nur ihren Namen, sondern auch ihr Wesen. Maria
erhielt zwar von nun an den Status eines über allem Menschlichen erhabenen
göttlichen Bildes, aber sie unterstand strikt der Vormundschaft des
dreieinigen Gottes. Die christliche Himmelskönigin blieb auch nach ihrer
Apotheose weiterhin die „Magd des Herrn“.
Ein weiterer Versuch, der
mediterranen Göttin in der christlichen Kosmogonie einen erhabenen Platz
einzuräumen, ist Dantes Göttliche Komödie. Der Dichter erhöht am
Ende seines Werkes Maria als die den ganzen Himmel durchdringende
Liebeskraft. Aber auch diese himmlische Macht der Liebe bleibt für die Welt
und die sterblichen Menschen transzendent, und schließt die Frauen auf
Erden weiterhin von der realen Macht aus. Auf Erden erscheint Dante das
göttlich Weibliche nur in der Gestalt eines 9 jährigen Mädchens mit dem
Namen Beatrice, das früh verstirbt und dem sich der Dichter kaum zu nahen
wagte.
Selbst im muslimischen
Kulturkreis vernehmen mystische Dichter den Ruf der mediterranen Göttin. Schon
zwei Generationen vor Dante hatte der arabische Gelehrte Muhammed Ibn al-
Arabi aus Córdoba die Religion als
die Sehnsucht nach dem Weiblichen definiert. Auch ihm offenbart sich die
Göttin in der Gestalt eines jungen Mädchens. Mehrmals begegnet er ihr,
sogar einmal beim Umschreiten der Kaaba. Um seine
Vision mit dem monotheistischen Glauben zu vereinbaren, sah er sie als
„Gott manifestiert in der Gestalt der Frau“. Doch seine Einsichten hatten
ebenfalls keine politischen Konsequenzen für die soziale Gleichberechtigung
der Frau im Islam.
Die Apokalypse des Johannes – eine misogyne
Weltvernichtungsphantasie
Das katastrophalste
literarische Werk der christlich-patriarchalen Mittelmeerkultur ist die auf
der griechischen Insel Patmos verfasste christliche Offenbarung des
Johannes, die so genannte Apokalypse. Dabei handelt es sich um
eine „messianische Eschatologie“ im Sinne von Max Weber, da diese
Prophezeiung keineswegs nur auf das Jenseits verweist, sondern einen
durchaus noch im Diesseits stattfindenden Krieg zwischen Gut und Böse
prognostiziert. So ist die Johannesoffenbarung mehr als einmal in
der Menschheitsgeschichte als „politisches Programm“ benutzt worden, um den
Endkampf gegen eine wie auch immer geartete „Achse des Bösen“ einzufordern.
Seit Jahrhunderten dient sie christlichen Fundamentalisten dazu, fanatische
Religionskriege ideologisch zu legitimieren und das bis hinein in unsere
Gegenwart.
Auch hinter diesem
endzeitlichen Drama, diesem unsäglichen Horror einer gnadenlosen
Weltvernichtung und dieser gequälten Sehnsucht nach einem Paradies,
verbirgt sich ein Geschlechterkrieg.
Die gewalttätigen und gnadenlosen Licht- Feuer- und Engelskräfte
repräsentieren die männliche Partei der Guten. Ihr oberster Feldherr
verkörpert sich in dem wieder auferstandenen, militanten Christus, der auf
einem weißen Pferd reitend die Welt mit einem totalen Krieg überzieht.
Die weibliche Partei in der Johannesoffenbarung
ist gleich durch mehrere Frauengestalten repräsentiert. Was die bösen, matriarchalen Gegenmächte anbelangt, so verdichten sich
diese in dem „apokalyptischen Tier“
mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, das dem Wasser entsteigt und das den
Himmel und die Welt erobern will. „Es wurde ihm auch die Macht gegeben über
alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen. Alle Bewohner der Erde fallen
nieder vor ihm.“ – heißt es in der Offenbarung (13: 7, 8). Diese
Bestie symbolisiert erneut die alte archaische Göttin, die schon, wie wir
eingangs erwähnt haben, in der Mythenwelt der Babylonier, der antiken
Griechen und der Hebräer in der Gestalt von Untieren und chaotischen
Monstern gegen das „patriarchale Paradigma“ antritt und die am Ende von
männlichen Lichthelden getötet und zerstückelt wird wie Tiamat
durch Marduk, Typhon durch Zeus, Medusa durch
Perseus, der Minotaurus durch Theseus und in
späterer Zeit der Drache durch St. Georg. Noch deutlicher zeigt sich die
Präsenz der Göttin im Auftritt der „Großen Hure Babylon“, die im 17.
Kapitel der Offenbarung auf der apokalyptischen Bühne erscheint. Mit
ihren sexuellen und erotischen Verführungskünsten zieht sie die Männer in
den Abgrund – Reminiszenzen an die alten matriarchalen
Kulte, in denen Promiskuität, Orgien, Männeropfer und Tempelprostitution
heilig waren, aber auch Erinnerungen an die tiefsten Ängste des Mannes vor
der Frau werden geweckt.
Als lichter Kontrapunkt zu
den dunklen matriarchalen Mächten, strahlt im 12.
Kapitel der Johannesoffenbarung die transzendente, dem Patriarchat
dienende überweltliche Frau in der Gestalt eines, wie es heißt, „mit der
Sonne bekleideten“ Weibes, die den kommenden Messias in ihren Armen hält.
Das apokalyptische Sonnenweib ist keine andere als Maria, die Magd ihres
Herrn, die Frau, die sich dem „patriarchalen Paradigma“ bedingungslos
unterworfen hat, ein weiteres Substitut für die mediterrane Göttin.
Am Ende der Vision, nach der
totalen Weltvernichtung, erscheint dann - ganz unerwartet - ein
Versöhnungsbild: die Hochzeit zwischen Christus, als das „Lamm“ bezeichnet,
und der „Braut“. Aber diese apokalyptische Braut ist erneut ein
symbolisches Substitut für die Göttin, sie ist überhaupt keine als Person
verstandene Gottheit oder Frau, sondern eine Stadt, die heilige Stadt
Jerusalem. Diese abstrakte Entpersonifizierung
des Weiblichen hat ihren Anfang in der Hebräischen
Bibel, wo das Volk Israel als Jahwes Braut vorgestellt wird, im Neuen
Testament verwandelt sich diese Abstraktion in das dogmatische Bild von der
Hochzeit Christi mit seiner Kirche. Was für einen extrem misogynen
Charakter die Johannesoffenbarung aufweist, zeigt sich weiterhin
daran, dass die 144 000 Auserwählten, die nach dem Endzeit-Massaker erlöst
werden, nur Männer sind, „die sich
nicht mit Weibern befleckt haben“. Die Szene gilt als die
frauenfeindlichste in den ganzen Evangelien.
Die Eroberungs- und
Untergangs-Visionen der Johannesoffenbarung haben verheerende
Auswirkungen auf die Geschichte gehabt. Immer wieder wurde dieses
Schreckensdokument des Mittelmeeres beschworen: in den christlichen
Kreuzzügen gegen den Islam, in den europäischen Religionskriegen zwischen
Katholiken und Protestanten, selbst einflussreiche Nazis ließen sich daraus
inspirieren. Doch dieser Wahn gehört keineswegs der Vergangenheit an. In
den letzten Jahren haben Weltuntergangsideologien bei islamischen,
christlichen und jüdischen Fundamentalisten Hochkonjunktur - in den USA ist
es die Christian Right, in Israel sind es
die Religiösen Zionisten und in den muslimischen Ländern sind es Islamisten
aller Schattierungen, die heute den Konflikt im Nahen und Mittleren Osten
als die sich erfüllenden apokalyptischen Prophezeiungen eines globalen
Krieges zwischen Gut und Böse, zwischen Gläubigen und Ungläubigen
interpretieren. Wer die Rolle der Frauen in diesen fundamentalistischen
Gruppierungen unter die Lupe nimmt, der wird sofort erkennen mit welcher
Radikalität dort das „patriarchale Paradigma“ weiterhin durchgesetzt wird.
Das „Paradigma der Geschlechterbegegnung“
Zusammenfassend können wir
sagen: Zwei umfassende, einander widersprechende Paradigmen haben seit
Jahrtausenden die übergreifenden Kulturkreise des Mittelmeeres bestimmt,
das „matriarchale Paradigma“ und das
„patriarchale Paradigma“. Der Konflikt zwischen beiden führte nicht nur zu
Machtkämpfen und Kriegen, sondern die psychologischen, sozialen und
politischen Beziehungen zwischen beiden Geschlechtern widerspiegeln bis in
die Gegenwart hinein die in den Epen, Dramen und Tragödien des Mittelmeeres
ausgetragenen Gender-Konflikte. Insbesondere hat die Verarbeitung der
Geschlechterbeziehungen in der römisch-griechischen Mythologie der europäischen
Kulturgeschichte ihren Stempel aufgeprägt. Die Frage stellt sich somit ganz
naturwüchsig, ob nicht die Zeit für ein neues Paradigma gekommen ist, ein
„Paradigma der Geschlechterbegegnung“?
Erfreulicherweise können wir
schon in den vergangenen Mittelmeerkulturen auf Mythen und Geschichten zurückgreifen, die
das Glück und den Frieden zwischen den Geschlechtern ins Zentrum stellen.
Das bekannteste Epos dieses Genres ist Homers Odyssee. Zehn Jahre
lang ließen die Götter den Helden Odysseus umherirren, bis er zu seiner
Gattin Penelope heimkehren durfte. Die Rückkehr des Odysseus in seine
Heimat Ithaka ist die humane Antwort auf den ewigen Geschlechterstreit der
griechischen Gottheiten. Odysseus überwindet auf seinen Irrfahrten durch
das Mittelmeer alle Hindernisse, um den gähnenden Abgrund, der in diesem
Teil der Welt Mann und Frau voneinander trennt, zu überbrücken. Dies kann
ihm nur gelingen, indem er die an ihren gegenseitigen Streitereien
verbissen festhaltenden Götter und Göttinnen überlistet.
Auch andere mediterrane
Geschichten nehmen das neue „Paradigma der Geschlechterbegegnung“ vorweg.
Zum Beispiel die Liebesromanze von Amor
und Psyche aus dem 2. Jahrhundert, die der römische Schriftsteller
Lucius Apuleius aufgeschrieben hat. Octavio Paz verweist auf den
„revolutionären“ Aspekt dieser „Lovestory“ für die gesamte europäische
Liebeskultur. In der antiken Gesellschaft wurde die Liebe fast
ausschließlich von der Person des Liebenden aus thematisiert. Der/die
Geliebte war vor allem das Objekt des eigenen Liebesverlangens. In Amor und Psyche aber steht die
wechselseitige Subjektivität der sich Liebenden im Zentrum. Amor liebt Psyche und Psyche
liebt Amor. So unterscheidet sich
ihre Liebe von den unzähligen Amouren der griechischen und römischen
Götter, da sie sich nicht nur an der Sinnlichkeit der nackten Körper
erfreut, sondern das seelische Potential der Partner mit in die Beziehung
einbringt und deswegen erst zum Eros
wird. Psyche beseelt Amor
und Amor versinnlicht Psyche.
Wir könnten noch eine ganze Anzahl
von Mittelmeer-Mythen aufzählen, die sich an einer Kultur der
Geschlechterbegegnung, einer Kultur des Eros orientieren. Diese muss die
drei abrahamitischen Religionen nicht als reine
Gegnerinnen verstehen, denn wir sollten uns immer wieder daran erinnern,
dass die Genesis der Menschheit weder im Judentum, noch im Christentum,
noch im Islam mit dem „Patriarchen“ Abraham beginnt. Wir sind nicht primär
die „Kinder Abrahams“, wie heute überall im interreligiösen Dialog
pathetisch hervorgehoben wird, noch sind wir aus der Parthenogenese einer
Übermutter entstanden, wie es einige Feministinnen behaupten, sondern wir
Menschen sind an erster Stelle die Kinder eines Liebespaares – die Kinder
von Adam und Eva.
Insbesondere das Judentum und
der Islam haben, obgleich sie dem „patriarchalen Paradigma“ folgen, eine
reiche Kultur der Geschlechterliebe hervorgebracht. Aus der Hebräischen Bibel stammt das bekannteste
Liebesgedicht des Mittelmeeres, ja der gesamten Weltliteratur, das „Lied
der Lieder“, das Hohelied auf den göttlichen Eros zwischen Mann und Frau.
Im arabischen Andalusien pflegte man eine Poesie, in der die Liebe zwischen
Mann und Frau als eine überzeitliche, archetypische Schönheit besungen
wird, ohne dass sie deswegen auf die Sinnlichkeit verzichten musste. Von
nachhaltiger Wirkung für dieses literarische Genre ist ein Traktat des
Gelehrten Ibn Hazan aus Sevilla mit dem Titel
„Das Halsband der Taube“ - eine Liebeslehre, eine ars
amandi, die im Gegensatz zu Ovids betonter Körperlichkeit nach der Verbindung von
geistiger, seelischer und körperlicher Liebe sucht. Das „Halsband der
Taube“ wurde im 11. Jahrhundert verfasst und hat später die Imagination der
provençalischen Troubadoure beeinflusst. Von
größter Achtung gegenüber der Frau ist auch das umfangreiche Oeuvre
eines zweiten Andalusiers, von Muhammad Ibn Arabi. Wenn Ibn Arabi sagt:
„Ich beziehe mich auf eine Religion der Liebe gleich welche Richtung sie
nimmt: die Liebe ist meine Religion, die Liebe ist mein Glaube“ („Je me lie par la religion de l’amour quelque soit la direction que prennent ses coursiers: l’amour est ma religion,
l’amour est ma foi“) dann meint er mit
„Religion der Liebe“ nicht nur - wie viele Sufis - die geistige Liebe,
sondern ebenso die körperliche Liebe zwischen den beiden Geschlechtern. Die
Verbindung von Sinnlichkeit (sensibilité)
und Spiritualität (spiritualité), von Sexualität und Transzendenz hat in
der arabisch-islamischen Kultur eine einmalige Reife erfahren.
In unserem Plädoyer für ein Kultur
der Geschlechterbegegnung möchten wir uns jedoch dafür einsetzen, dass das
neue Paradigma eine weit über der Eros
hinausragende Symbolkraft erhält. Eine solche Ausweitung des Paradigmas ist
keineswegs willkürlich, greifen doch alle drei
monotheistischen Religionen zu Bildern des Eros, wenn sie bestimmte
religiöse Beziehungen ausdrücken wollen, ganz besonders zur Metapher der
Hochzeit. Sowohl in der jüdischen, als auch in der christlichen, als auch
in islamischen Mystik wird die Vereinigung mit
Gott als „Hochzeit“, als hieros gamos, bezeichnet. Da die neue kulturelle Achse der
Geschlechter aus der Überwindung des matriarchalen
und des patriarchalen Paradigmas entsteht, drückt sie symbolisch die
Umwandlung von Dualismen in Formen der Polarität, der Kooperation und der
Vereinigung aus. Das „Paradigma der Geschlechterbegegnung“ fordert die
Einheit von Macht und Liebe, von Logos und Eros, von Verstand und Gefühl,
von Körper und Seele, von Spiritualität und Sinnlichkeit, von Freiheit und
Bindung, von Natur und Geist, von Nord und Süd, von West und Ost, von
Europa und Afrika, von Israel und Palästina, von Christen und Muslimen, von
Schwarz und Weiß – kurz es spricht über die Heilige Hochzeit von Rom und
Karthago, von Gott und Göttin, von Mann und Frau.
Wir haben als Erinnerung und
als Hommage an die Treue und Liebe des Odysseus zu seiner Gattin Penelope
und an die Mühsale seiner turbulenten Irrfahrten, die er vor seiner
Heimkehr erdulden musste, die Realisierung des von vorgeschlagenen
„Paradigmas der Geschlechterbegegnung“ für ein neues Mittelmeermodell
„Projekt Ithaka“ genannt. Odysseus widersteht der Willkür der Götter.
Verstand, List, Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Ausdauer und Stärke bringen
ihn zu seinem Ziel. Dieses Ziel ist die Geschlechterliebe. Auch sind die
patriarchalen Tugenden Krieg, Heroentum und Ruhm nicht die vordringlichen
Ambitionen des Odysseus, sondern es sind Heimat, Glück, Friede, Familie
und Eros.
Wir sprechen von einem „Projekt“, weil es sich um ein
langfristiges Unterfangen handelt, um ein Kulturprogramm innerhalb der
neuen Mittelmeerunion, dessen Absicht es ist, das „Paradigma der
Geschlechterbegegnung“ bekannt zu machen, zu diskutieren und zu festigen.
Das „Projekt Ithaka“ hat einen kritischen und einen kreativen Teil. Im
kritischen Teil wird die Beziehung der Geschlechter in den mediterranen
Kulturkreisen untersucht, angefangen von der Frühgeschichte bis heute. Im
kreativen Teil werden Kulturentwürfe vorgeschlagen und zur Diskussion
gestellt, welche die Kooperation und die Liebe zwischen den Geschlechtern
als originäres Anliegen haben. Der Kunst kommt in diesem Kontext eine
zentrale Rolle zu. Ob und wie sich das „Projekt Ithaka“ realisieren lässt,
darüber möchten wir in unserem Workshop diskutieren.
Erläuternde Beiträge zum Text:
Anatomie eines Selbstmords - Henry Purcell‘s Dido and Aeneas
Kahena – die vergessene Königin von Ifrikia
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