Der Schatten des Dalai Lama

Sexualität, Magie und Politik im tibetischen Buddhismus

 

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INTERVIEWS (04)

 

BAYRISCHER RUNDFUNK - Geseko von Lüpke - März 1999

Das Bild vom Dalai Lama als modernem Heiligen, Friedensfürst, Menschenrechtler, tolerantem und mitfühlendem Religionsführer ist - so sagen Sie in Ihrem Buch - das Produkt einer geschickten Manipulation. Was ist falsch am Dalai Lama, der immer wieder weise Sachen sagt, dessen Exilparlament eine westliche Verfassung hat und der selbst herzliche Beziehungen zur westlichen Prominenz in Kultur, Wissenschaft und Politik unterhält? Wie kann dieses Bild plötzlich vom Licht in den Schatten wechseln?

V. TRIMONDI: Der Dalai Lama hat zweifellos seine Lichtseiten. Und wir sind auch davon überzeugt, dass das, was der Dalai Lama sagt und nach außen hin vertritt, durchaus zu unterstützen ist. Der Dalai Lama tritt mit dem Westen unter den Maximen des sogenannten Mahayana Buddhismus in Kontakt. Im Zentrum seiner Philosophie steht zum Beispiel das Mitgefühl mit allen leidenden Wesen. Und wir kämen nie auf die Idee, gegen solche Vorstellungen irgendetwas Negatives zu sagen. Aber der Dalai Lama ist nicht nur das, was er nach außen vorgibt zu sein, sondern er hat auch seine Schattenseiten. Ebenso, wie seine Religion ihre Schattenseiten hat. Und diese dunklen Aspekte bestehen in einem Ritualwesen, das hier im Westen überhaupt noch nicht bekannt ist. Sie bestehen weiterhin in einer Geschichte, die sehr, sehr dunkle Kapitel aufweist, die - wie die meisten Religionen auch - ihre "Leichen im Keller" hat.

Was sind die Kernpunkte ihrer Kritik am tibetischen Buddhismus, bzw. an der Person des Dalai Lama, oder lässt sich das so nicht trennen?

V. TRIMONDI: Der erste Kernpunkt besteht, dass im Ritualwesen des tibetischen Buddhismus religiöse Praktiken vollzogen werden, die mit unserem europäischen Wertekodex nicht übereinstimmen. Der zweite Kernpunkt ist, dass die Exiltibeter und westlichen Anhänger des Lamaismus nach außen hin die Geschichte des tibetischen Volkes und Klerus so darstellen, wie sie nicht gewesen ist. Sie hat - ebenso wie die europäische Historie - ihre blutigen Kapitel. Der dritte Kernpunkt besteht in den höchst problematischen, sozialpolitischen Zuständen unter den Exiltibetern und zwischen den verschiedenen Mönchsfraktionen.

Einer der zentralen Vorwürfe gegen den tibetischen Buddhismus ist die Aussage, dass es sich bei dieser Religion um eine fundamentalistische, aggressive Ideologie handelt, die mit langfristig kriegerischen Ambitionen eine Weltherrschaft anstrebt. Das klingt - vereinfacht gesagt - nach einer zweiten Scientology-Sekte. Wie begründen sie diese Vorwürfe?

V. TRIMONDI: Das zutiefst kriegerische Element in der tibetischen Religion ist im Laufe der Jahrhunderte nie in Frage gestellt und aufgehoben worden. Es gibt dort eine Unzahl von Kriegsgöttern, die bei politischen Auseinandersetzungen, die dieses Land zu durchstehen hatte, immer wieder aktiviert werden, die angebetet werden und die durch Rituale aufgerufen wurden. Die für diese Religion wichtigen Dharmapalas - die sogenannten Schutzgötter - stammen aus der kriegerischen und sehr aggressiven vorbuddhistischen Vergangenheit des tibetischen Volkes. Sie wurden in das System integriert, aber nicht transformiert.

Ich verweise zum Beispiel auf die Schutzgöttin des Dalai Lama, Palden Lhamo mit Namen. Es handelt sich hierbei um ein blutrünstiges Weib, das seinen eigenen Sohn umbrachte, weil dieser die buddhistische Lehre nicht annehmen wollte. Danach verarbeitete sie seine Haut zu einem Sattel, den sie auf ihrem Maultier benutzte. Das sind Bilder, sehr machtvolle, aggressive Bilder, auf die wir immer wieder in diesem System stoßen und die der bekannte niederländische Psychoanalytiker Fokke Sierksma in den 60er Jahren mit Bildern aus der Kultur der Azteken verglichen hat.

Viel entscheidender ist für uns jedoch die politische Aggressivität, die sich im sogenannten Shambala-Mythos ausdrückt. Der Shambala-Mythos ist in einer Zeit entstanden, in der die buddhistische Community sehr durch den Islam bedrängt wurde und einen kriegerischen Mythos angenommen hat, der als Gegenzug einen buddhistischen Dschihad (Heiligen Krieg) proklamierte, um siegreich gegen die Invasion der islamischen Heere vorzugehen. Und dieser Mythos spielt heute in sehr vielen Variationen wieder eine eminent wichtige Rolle und hat eine weltweite Verbreitung gefunden, wobei die Interpretationen des Mythos alle möglichen Varianten aufweisen.

Mythen entstammen wohl immer einem a-rationalen Raum und haben sich über Zeiträume und verschiedene kulturelle Entwicklungsstufen ausgeprägt. Macht es Sinn, einem vielhundertjährigen Mythos wie den Shambhala-Mythos oder das Kalachakra-Tantra eine derartige Macht über das heutige Denken und Fühlen der tibetischen Buddhisten einzuräumen?

V. TRIMONDI: Ein Mythos schwindet, wenn er nicht mehr in das Bewusstsein der Menschen tritt. Die Aktivierung eines Mythos geschieht - wie Mircea Eliade gezeigt hat - durch das Ritual. Wir vollziehen den Mythos, wir nehmen Teil am Mythos, wenn wir einen Ritus praktizieren, der einen Mythos evoziert. Das bedeutendste Ritual für den Dalai Lama ist das Kalachakra-Tantra und damit ist auch der dort erwähnte Shambhala Mythos angesprochen. Welch große Verbreitung der Shambhala Mythos hier im Westen gewonnen hat, das zeigt sich auf einer sehr profanen Ebene schon dadurch, dass erstaunlich viele Eintragungen zum Begriff "Shambhala" im Internet zu erhalten sind. Das geht in die Hunderttausende. Dieser tibetische Mythos ist zu einem sehr starken Symbol für die verschiedensten Gruppen geworden und hat sowohl positive als auch extrem negative Interpretationen erfahren. Als Beispiel für das letztere möchte ich hier nur kurz erwähnen, dass er einen eminenten Einfluss auf das Religionssystem des Giftgas Guru Shoko Asahara hatte, der 1995 einen Terroranschlag auf die U-Bahn in Tokio durchführte, bei dem 5000 Menschen verletzt und mehrere getötet wurden.

Was ist der Shambhala-Mythos?

V. TRIMONDI: Der Shambala-Mythos ist eine buddhistische Eschatologie, also eine auf ein Ziel hin gerichtete Vision, die einmal eintreten wird. Und diese Vision hat folgende Inhalte: Einmal die Buddhisierung der gesamten Welt und damit verbunden die Errichtung einer globalen Buddhokratie. Dann, dem vorausgehend, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den militärischen Kräften des Buddhismus und den militärischen Kräften anderer Religionen, speziell des Islam, schließlich der Sieg der buddhistischen Armeen über die Heere der anderen Religionen in einer Endschlacht und danach die Errichtung eines paradiesischen Großreiches. Also eine klassische Eschatologie, wie wir sie auch aus anderen Kulturkreisen kennen.

Wenn man jetzt auf diese Kraft der Mythen zurückgreift, kann man das dann für die europäische Geschichte genauso gut anwenden, dass man sagt, dass die Johannes -Apokalypse für die Projektionsfläche des Papstes ein Problem sein könnte, dass er letztlich auch mit solchen "Schatten" herumläuft? Oder bezieht sich das nur auf den Buddhismus?

V. TRIMONDI: Auf gar keinen Fall! Es gibt von Klaus Vondung eine interessante Analyse über den Einfluss der Johannes-Apokalypse auf die kriegerischen Auseinandersetzungen in Deutschland. Das war unerwartet häufig! Selbst die frühen Kreise um Hitler, vor allem Josef Goebbels, haben sich auf die Johannes-Apokalypse berufen. Es gab kaum einen europäischen Krieg, im Verlauf dessen nicht der Versuch gemacht wurde, irgendwelche Bezüge zu diesem Schwarz-Weiss-Denken der Apokalypse herzustellen, meist um die eigenen Interessen religiös zu legitimieren und den Gegner zu verteufeln. Der Unterschied zu den Weltzerstörungsbildern des tibetischehn Buddhismus ist in diesem Fall nicht inhaltlicher Natur, sondern er besteht darin, dass es über den Papst und über die Geschichte und Dogmatik des Christentums eine endlose Zahl kritischer Literatur gibt, die jeder, der es will, nachlesen kann. Für den tibetischen Buddhismus ist das nicht der Fall und unser Buch ist bis jetzt im deutschsprachigen Raum eine der ganz wenigen kritischen Texte, die hier auf dem Markt sind.

Der Tantrismus, also die einzige Religion, die die Sexualität zwischen Mann und Frau zu einer heiligen Handlung erklärt, ist nach Ihrer Analyse nicht nur frauenfeindlich und sexistisch, sondern fördert möglicherweise auch Kindesmissbrauch, rituelle Gewalt bis zum Mord und Sie sprechen auch von Kannibalismus. Sprechen Sie da von seltenen Auswüchsen oder ist das für Sie ein integrales Element dieser Kultur und Religion?

V. TRIMONDI: Es ist ein integrales Moment, auf jeden Fall nach einem symbolischen Verständnis, nach der herrschenden Meinung der tantrischen Gelehrten auch real. Solche Aktivitäten müssen durchgeführt werden, das ist das Prinzip des tibetischen Tantrismus, der einen kurzen Weg zur Erleuchtung darstellen soll. Dieser kurze Erleuchtungsweg verlangt, dass sich der Initiant den größten Extremen aussetzt und die größten Übertretungen begeht, die ansonsten im Buddhismus nicht erlaubt sind. Das heißt, er muss all die Verbrechen, die Sie in Ihrer Frage angesprochen haben, prinzipiell begehen können; muss sich in eine Position, die ihn jenseits von Gut und Böse stellt, bringen können und muss dadurch die Bindung an die gesellschaftlichen und ethischen Normen als solche überwinden. Das ist das Prinzip des Tantrismus. Es gibt in den Texten in der Tat den Vorschlag, mit Mädchen von 12 Jahren einen sakralen Sexualakt zu vollziehen. Das Alter spielt dabei eine wichtige Rolle, weil es eine symbolische Bedeutung hat. Wir haben in unserem Buch mehrere Beispiele dafür angeführt, dass es so etwas real gegeben hat und immer noch gibt. Die Verletzung ethischer Normen ist ein tantrisches Leitmotiv, da diese Religion diese Extreme verlangt, um den Erleuchtungsweg zu beschleunigen.

Wo unterscheidet sich der frauenfeindliche tibetische Lama vom österreichischen Bischof, dem der Missbrauch von Kindern nachgesagt wird? Anders gefragt: Bringen zölibatäre Religionen nicht immer Doppelmoral, Feindbilder und sexuell inhumane Verhaltensweisen hervor?

TRIMONDI: Dazu ist zunächst zu sagen, dass der tibetische Buddhismus nicht grundsätzlich zölibatär ist. Das Zölibat gilt ausschließlich für die Gelugpa-Sekte. Alle anderen Sekten geben den Mönchen die Erlaubnis, zu heiraten. Aber dies bedeutet nicht, dass bei den zölibatären Mönchen, die sexualmagischen Riten nicht praktiziert werden. Im Gegenteil, sie werden von ihnen in einem strikteren Masse durchgeführt. Das tantrische Ritual ist etwas ganz Einmaliges, etwas, das nicht zu einer permanenten Wiederholung führen muss. Es handelt sich dabei um eine Art Eucharistie, um ein sakrales Fest, welches im Zentrum dieser Religion kultiviert wird und es unterscheidet sich selbstverständlich von der sexuellen Bedürfnisbefriedigung österreichischer Bischöfe, die ihre Befriedigung mit keinem Mysterium verbinden.

Dennoch ist das tibetische Ritualwesen nicht weniger problematisch. Im Gegenteil - vor allem weil die sexualmagische Praxis darauf beruht, dass sie die weiblichen Energien ("Gynergie") zugunsten des Tantra Meisters nutzt und von der Frau raubt, um den eigenen androzentrischen Energiekörper aufzubauen. Deswegen halten wir dieses System für perfider, als die sexuellen Delikte katholischer Priester. Letzteres sind verständliche menschliche Schwächen, die es sicher bei vielen Lamas auch gibt. Aber das religiös begründete Prinzip, die Sexualität und die Liebe von Mann und Frau für einen männerorientierten Erleuchtungsweg und Machtzuwachs zu nutzen, das erscheint uns weit problematischer.

Diese Gynergie - diese magische Technik zum "Absaugen" der weiblichen Energie zum Machtgewinn des Mannes - steht ja im Mittelpunkt Ihrer Analyse. Das ist doch aber für sich schon eine sehr skurrile Vorstellung von Geschlechterbeziehung. Kann man denn daraus Frauenfeindlichkeit und Sexismus ableiten?

V. TRIMONDI: Selbstverständlich! Wir haben ja dieses Buch mit der Intention begonnen, einen positiven Text über den tibetischen Buddhismus und über die von ihm behandelte Geschlechterthematik zu schreiben. Im Laufe der Recherchen haben wir aber mit Bedauern feststellen müssen, dass dieser Kult in nicht Weise die Geschlechterpolarität oder die -gleichwertigkeit fördert, sondern im Gegenteil. Bei der tantrischen Praxis sind wir mit einer einseitigen Orientierung konfrontiert, bei der das weibliche Element ausschließlich nur als Mittel zum Zweck für den männlichen Teil dient. Am Ende der verschiedenen Meditationspraktiken verschwindet die Frau, die zuerst zu einer Göttin erhöht wurde, von der kosmischen Bühne und letzten Endes auch von der sozialen. Auf der gesellschaftlichen Ebene muss sich eine tibetische Nonne vor jedem noch so geringen Mönch verbeugen, umgekehrt ist das keineswegs der Fall. Auf der metaphysischen Ebene haben wir dieselbe Konstellation. Am Anfang erhöht der Tantra Meister seine Partnerin zur Göttin, um deren Energie dann im Laufe des Rituals in seinen männlichen Körper zu integrieren, so dass er die männlichen und weiblichen Kräfte in sich vereinigt.

Beim Tantrismus handelt es sich deswegen um eine funktionalisierte Beziehung, die nicht auf Ich und Du basiert, bei der kein gleichwertiger Austausch stattfindet, sondern wir haben hier eine Technisierung, eine Mechanisierung der Liebesenergie als Mittel zum Zweck vor uns. Beim Tantrismus handelt es sich eindeutig nicht um eine frauenfreundliche Religion sondern um eine zutiefst frauenfeindliche Religion, in der die Frau dem Mann als Mittel zum Zweck für die Errichtung seiner spirituellen und seiner politischen Macht dient.

Letztlich schreiben doch auch Sie aus der eurozentrischen Perspektive. Gibt es denn überhaupt eine Möglichkeit, so eine andere Kultur mit so universellen oder multikulturellen Werten zu überprüfen?

V. TRIMONDI: Wir müssen als "Westler" ein Urteil fällen! Sie sprechen von Eurozentrismus. Tatsache ist, dass sich der tibetische Buddhismus im Westen weit verbreitet hat und dass es Zehntausende von Menschen westlicher Abstammung gibt, die heutzutage den Vajrayana, also den Tantrismus, praktizieren. Das macht den tibetischen Buddhismus zu einem Kulturphänomen des Westens. Er ist keine exotische Religion mehr. Ich kann die Tantras heute nicht mehr in Tibet studieren, sondern ich muss nach Colorado (USA) oder nach Südfrankreich oder in die Eifel gehen, weil dort die wichtigsten Tantra Meister lehren und weil sich dort die meisten westlichen Schüler aufhalten. Also wir haben es hier nicht mehr mit dem alten Tibet zu tun, mit einem Land, das völlig abgeschlossen ist von der Aussenwelt, sondern wir haben es mit einem ehemals nicht-europäischen Kulturentwurf und mit kulturellen Praktiken zu tun, die schon die unseren geworden sind.

Gleichzeitig haben wir ja hier im Westen die Tendenz, archaische Religionen sehr stark zu idealisieren. Z. B. die Geschichte, dass alle Welt von Chief Seattle und den Indianern spricht, oder dass massenweise Bücher über die australischen Aborigenes erscheinen, spricht ja eindeutig dafür. Auch Indianer haben Kinder ausgesetzt und Aborigenes haben blutige Rituale veranstaltet. Gibt es denn eine jungfräuliche, reine Religion, die keine Schattenseite hat?

V. TRIMONDI: Das ist eine europäische Krankheit, bzw. - von welchem Blickpunkt aus man das sieht - auch etwas sehr Sympathisches bei den Europäern, nämlich dass man exotische Völker idealisiert. Das hat Tacitus schon mit den Germanen gemacht, Montesquieu hat das Heil bei den Persern gesucht und Rousseau schlechthin bei den "Guten Wilden". Ich gehöre einer Generation an, welche die nordamerikanischen Indianer, beziehungsweise alle Urvölker naiv idealisiert hat, weil wir sie als eine Alternative zu unserer materialistischen und technoiden Zivilisation angesehen haben. Erst nach einer intensiveren Beschäftigung mit den anfangs bewunderten archaischen Stammesreligionen - wie etwa die Hopi-Indianer - sind meine Frau und ich zu dem Schluss gekommen, dass es grundsätzlich problematisch ist, unkritisch Bilder und Praktiken dieser exotischen Religionssysteme zu übernehmen. Die Urreligionen haben wie die Hochreligionen ihre schönen Seiten, selbst der tantrische Buddhismus hat diese, aber sie haben auch ihre Schattenseiten. Es gab in den 70ern die weitverbreitete Tendenz, solche Idealisierungen der unterdrückten Völker zu kultivieren. Das hat sich - das müssen wir selbstkritisch sagen - als gefährlich und falsch erwiesen.

Nun waren Sie ja aktiv daran beteiligt, den Mythos des Dalai Lama mitzuweben. Kann man nicht sagen, dass der Schatten des Dalai Lama oder von irgendeiner Religion nicht umso größer ist, je höher man sie vorher ins Licht gehoben hat?

V. TRIMONDI: Das ist ein geradezu physikalisches Phänomen! Natürlich - wenn jemand sehr im Licht steht, wirken die Schattenseiten intensiver. Da der Dalai Lama zu einem weltweiten Symbol der Reinheit und Tugend geworden ist und zur Zeit für viele Menschen diejenige Figur auf der Weltebene darstellt, die in sich die edelsten und tolerantesten Qualitäten vereinigt, erhalten die jetzt zu Tage tretenden dunklen Eigenschaften eine enorme Bedeutung. Der Schatten wird tatsächlich umso schwärzer, je lichter die Gestalt ist.

Wieso bei Ihnen die Kehrtwendung wenn er bei Ihnen auch eine lichte Gestalt war in der Vergangenheit?

V. TRIMONDI: Der Dalai Lama war für mich eine Person, die sehr viele Werte in sich zu integrieren schien, die damals in unserem Milieu - dem engagierten ökologischen Milieu der 70er - hoch geschätzt wurden. Ich habe damals in meinem Verlag (dem Dianus-Trikont-Verlag) ein Buch von ihm publiziert, das hieß "Logik der Liebe". Der Dalai Lama war damals für mich eine Person, die es mir ermöglichte, ohne Scheu über die Liebe als eine soziale Tugend zu sprechen. Wir waren ihm auch sehr dankbar dafür, das jetzt so etwas ausgesprochen werden konnte, wie dass Liebe und Politik nicht unbedingt zwei Gegensätze darstellen müssen. Gerade deswegen haben wir (meine Frau und ich) uns ja daran gemacht, eine Analyse des tibetischen Buddhismus zu erstellen, weil wir die ethischen Werte, die wir in anderen Religionen vergeblich gesucht hatten, dort zu finden glaubten, zum Beispiel die sakrale Gleichheit der Geschlechter.

Alle uns bekannten Religionen konzentrieren sich auf ein eingeschlechtliches männliches Wesen. Oder der moderne Feminismus hat umgekehrt eine weibliche Gottheit in sein Zentrum gestellt. Im buddhistischen Tantrismus glaubten wir endlich eine religiöse Anschauung zu finden, nach der sich Mann und Frau, Gott und Göttin gegenseitig auch auf der metaphysischen Ebene begegnen konnten. Aber was wir entdecken mussten, war eine sakrale Technik, die in ihrer Perfidität, alles, was sonst mit dem Eros in anderen Religionen getrieben wird, in den Schatten stellt. Das hat uns die Augen geöffnet und dazu geführt, dass wir ein sehr kritisches Verhältnis gegenüber dem tantrischen System entwickeln mussten.

Wir kritisieren den Dalai Lama nicht wegen seiner Äußerungen, sondern wegen seines religiösen Systems, dem Tantrismus, und wegen der Rituale, die von ihm durchgeführt werden, speziell das Kalachakra Ritual. Er spricht nicht über diese Rituale, genauso wenig wie über die politischen Konflikte der exiltibetischen Community, in der ein nach außen hin demokratisches Parlament politische Entscheidungen von einem Staatsorakel einholen lässt. Wir kritisieren ihn nicht als den einfachen Mönch, als der er sich so gerne darstellt. Er ist gleichzeitig Mensch und Mönch, aber er ist auch ein sakraler König und eine spiritueller Meister und eine machtvolle Gottheit. Nur in dieser Gesamtheit ist er zu verstehen.

Muss eine Kulturkritik bis in die Mysterien einer Religion vordringen? Sie bezeichnen eine derartige Analyse in ihrem Band als eine conditio sine qua non für das Überleben des westlichen Humanismus auf dieser Welt.

V. TRIMONDI: Ja ganz sicher muss sie das. Eine Kultur, die auf Mysterien aufbaut, interpretiert ihre kulturelle Evolution aus diesen Mysterien heraus. Das ist im traditionellen Islam so, das ist im traditionellen Christentum so und das ist auch im traditionellen Judentum so. Alles, was im Mysterium einer Religion schon in nuce vorhanden ist, gibt zukünftigen historischen Ereignissen einen Sinn. Geschichtsverständnis ist hier immer identisch mit Eschatologie. Es gibt in solchen Kulturen keinen säkularen Bereich, alles - auch die Historie - leitet sich aus den Mysterien ab, wird zur Hierohistorie, zur Heilsgeschichte. Unter diesem Gesichtswinkel erhält die Vertreibung der Tibeter aus ihrem Land die Vision, dass sich jetzt erst das Dharma oder der tibetische Buddhismus auf weltweiter Ebene verbreiten kann. Deshalb gibt es aus buddhistischen Kreisen die Interpretation, dass die Invasion der Chinesen ein notwendiges Opfer des tibetischen Volkes gewesen sei, das erbracht werden musste, damit die gesamte Menschheit jetzt dem Weg des Dharma folgen kann.

Mythen leben doch sehr stark vom Symbol. Was Sie jetzt gesagt haben, heißt ja, dass Sie davon ausgehen, dass das Symbol jeder Mythologie einen ganz direkten Bezug zur gesellschaftlichen Realität hat, bzw. dass sich die gewalttätigen Symbole immer auch ausdrücken in der Politik einer Kultur, die sich auf bestimmte Mythologien beruft.

V. TRIMONDI: Das ist für uns eine Tatsache, die jedoch im kulturellen Diskurs hier im Westen noch nicht die gebührende Anerkennung gefunden hat. Wir sind der Meinung, dass Symbole und Mythen einen eminenten Einfluss auf das gesellschaftliche Gefüge haben. Das anschaulichste Beispiel ist sicher der Nationalsozialismus, der von Beginn an die prägende Kraft der Mythen benutzt und bewusst eingesetzt hat, um ein aggressives und tödliches System aufzubauen. Wir können nicht so tun, als hätten nur soziale und psychologische Ursachen zum Aufstieg der Nazis geführt. Es waren die rassistischen Mythen, es waren die Götter Richard Wagners, okkulte Ideen aus dem theosophischen Umfeld, die hier Pate gestanden sind.

Wir sind der Überzeugung, dass Mythen für eine Kultur dieselbe Macht haben können wie ein Paradigma und dass sie die Grundpfeiler einer Kultur darstellen können. Wir sind aber auf der anderen Seite auch davon überzeugt, dass Mythen sowohl kritisch aufgearbeitet als auch transformiert werden können. Insofern bedienen wir uns eines aufklärerischen Rationalismus. Da jedoch die Kraft der Mythen die menschliche Gesellschaft entscheidend prägt, glauben wir nicht, dass es möglich ist, sie einfach per ratio verschwinden zu lassen. Deswegen sind wir keine "reinen" Rationalisten. Wir glauben nicht, dass man die humane Gesellschaft nur nach den Kriterien der Vernunft formen kann, dass wir auf die Bilder, Affekte und die Mysterien verzichten können. Aber wir sehen uns nicht gezwungen, die traditionellen Bilder und Mysterienkulte kritiklos übernehmen zu müssen. Wir glauben vielmals, dass der Mensch als ein kreatives Wesen einen Einfluss auf die Mythenbildung hat, dass er bestehende und überholte Mythen transformieren kann, dass er neue Mythen schaffen kann, die kompatibel sind mit unserem humanen europäischen Erbe.

Aber es herrschen immer noch die schrecklichen und oft auch verborgenen Schattenmythen der Religionen - etwa im Christentum die Johannes-Apokalypse, im Islam der Dschihad und im tibetischen Buddhismus der Shambala-Mythos. Die menschliche Würde verlangt es, dass diese Mythen transformiert oder per Dekret aufgehoben werden. Ein solcher Schritt ist für die Zukunft unserer Weltgesellschaft notwendig. Immer wieder sind solche Bilder benutzt worden, um die destruktiven Phantasien und Taten von Menschen anzuregen.

Was wäre denn die Folge davon, wenn wir uns diesem mythologischen Aspekt fremder oder der eigenen Kultur verweigern? Heißt das, dass wir automatisch dann von fundamentalistischen Strömungen überrascht werden?

V. TRIMONDI:

Wir denken, dass immer wieder in kritischen Situationen solche Bilder ausbrechen und dann von fundamentalistischen Kräften genutzt werden können.

Es gibt im Umgang mit dem Mythos zwei Modelle: Das eine ist das der Verweigerung oder stillschweigender Akzeptanz, das andere ist das - wie wir es nennen - des "mythologischen Diskurses". Es war nicht nur unser modernes "rationales Zeitalter", das sich den Mythen verweigert hat, sondern etwas Ähnliches ist schon vorher passiert, im "Römischen Reich" zum Beispiel. Rom hatte ein sehr interessantes Verhältnis zum Mythos und den damaligen zahlreichen Glaubensrichtungen; ein Verhältnis, das sich heute im Westen wiederholt: Man ließ alle Mythologeme und religiösen Gruppierungen zu, duldete und akzeptierte sie, jedoch nur unter der Voraussetzung, das sie nicht die Herrschaftsgewalt des Staates angriffen. In diesem Sinne hat der römische Staat das Pantheon bauen lassen, diesen ökumenischen Rundtempel, in dem die Götter der verschiedenen Völker und Religionen ihren Platz fanden. Genau das ist etwas, was wir auch heute wieder erleben, angesichts dieser Schwemme von Sekten, religiöser Gruppierungen und "wiedergeborener" Traditionen im Verhältnis zum modernen Staat. Am Ende hat diese Politik aber dazu geführt, dass eine dieser Religionen, nämlich das Christentum, die politische Macht ergreifen konnte. Damit war das Ende des "profanen" römischen Staates besiegelt.

Die römische Zeit war - was die Religionen anbelangte - ziemlich unkreativ. Wir meinen damit, dass die dort auftretenden Glaubensrichtungen schon mehr oder weniger geformt, ihre Lehren und Praktiken schon fixiert waren. In den Jahrhunderten des vorausgegangenen Hellenismus war diese Situation völlig anders. Dort haben die verschiedenen religiösen Gruppierungen noch miteinander einen Dialog oder eine Auseinandersetzung geführt und es gab einen regen intellektuellen Austausch über ihre verschiedenen Mysterien. Es war eine Zeit des "mythologischen Diskurses". Das Christentum ist zum Beispiel ein Produkt dieses Austausches verschiedener jüdisch-gnostischer Strömungen. So ein Prozess tut heute wieder Not: ein hellenistisches Modell, welches die Herausbildung neuer religiöser Strömungen fördert, die mit dem humanistischen Weltbild Europas kompatibel sind; welches die grundsätzliche Hinterfragung der bestehenden Traditionen unter diesem humanistischen Aspekt ermöglicht; welches den interreligiösen Vergleich zulässt. Alle großen Religionen orientieren sich immer noch an fragwürdigen Traditionen und "Göttern", welche vor Tausenden von Jahren entstanden sind und welche alle die Merkmale einer überholten Zeit mit sich schleppen. Dies gilt bis hinein in die Kultmysterien.

Nun läuft ja diese ganze Begeisterung für den tibetischen Buddhismus auch sehr im Kontext dieses New Age oder der Revitalisierung von Esoterik in der modernen Gesellschaft. Halten Sie jetzt ihre Analyse auch in dem Hinblick für wichtig, dass da auch unterirdische Strömungen, die auch in unserer Kultur vorhanden sind, mehr an die Oberfläche kommen.

V. TRIMONDI: Die sogenannte New Age Bewegung - wie skeptisch man ihr auch gegenüberstehen mag - war in der Anfangsphase - also in den 70er und den 80er Jahren - davon gekennzeichnet, dass in der Tat dieser oben erwähnte Diskurs zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen stattfand: da gab es Christen, Buddhisten, Kabbalisten, Schamanen usw., die alle gemeinsam nach neuen Wegen suchten und sich auf eine gemeinsame neue Visionssuche (vision quest) machten. Hinzukam noch der Beitrag der neu entstandenen spirituellen Frauenbewegung, welche immer wieder die Rechte des Weiblichen in den Religionen artikulierte. Aber dieses originäre Milieu wurde sehr bald zwischen den etablierten Traditionalisten, verschiedenen fundamentalistischen Sekten und der rationalistisch, profanen Öffentlichkeit (der Partei der Verweigerung) zermalmt. Der Diskurs konnte nicht weitergeführt werden und es blieb alles beim Alten: hier der weltliche Staat - dort die religiösen Bekenntniskirchen und Sekten, wobei jedoch die letzteren weltweit zu wachsen begannen und dabei sind - wie damals in Rom -, die Rechte des Staates für sich in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel im Iran und Afghanistan.


 

 

 

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