BUDDHISMUSDEBATTE
Zahlreiche Artikel zum Lamaismus finden Sie auch unter den
Segmenten Hitler-Buddha-Krishna und Kritisches Forum Kalachakra. Siehe
ebenfalls: Presseberichte und Interviews.
Buddhismus - Mythos und
Geschichte/Ritual und Politik I
Michael
von Brück - Diskussionen über sein Buch "Religion und Politik im
tibetischen Buddhismus" – München
1999
Zu Michael von Brück siehe auch Interviews zu "Der Schatten des Dalai
Lama"
Michael von Brück - "Religion und Politik im tibetischen
Buddhismus" - eine Rezension von V. & V. Trimondi
Der
Mantel der Geschichte
Professor Dr. Michael von Brück lehrt
Religionswissenschaft an der Universität München und war Dekan der
Evangelisch Theologischen Fakultät. Als Herausgeber der Zeitschrift Dialog
der Religionen gilt er als einer der führenden deutschen Köpfe im
interreligiösen Dialog. Er hat zu diesem Thema und zum Buddhismus
zahlreiche Bücher publiziert. Nach einem Studium der Theologie, des
Sanskrit und indischer Philosophie ließ er sich in tibetischen Klöstern
Indiens sowie in Zen Klöstern Japans in den Buddhismus einführen. V. Brück
wird deswegen in der Szene als ein buddhistischer "Eingeweihter"
angesehen und präsentiert sich dort auch gerne so. Noch heute lehrt er
regelmäßig Yoga und Zen. Er war in den 80ern sehr aktiv im sogenannten New
Age Milieu und kennt die okkulten Strömungen innerhalb dieser Bewegung
bestens. Schon seit Jahren besteht ein enger Kontakt mit dem XIV Dalai
Lama. V. Brücks Selbstverständnis als der "Dialogpartner des Dalai
Lama" ist mittlerweile zu einer Art "Titel" oder
"Passwort" geworden, mit dem der christliche Religionswissenschaftler
in der liberalen Presse präsentiert wird.
Seine bisherigen Schriften über den tibetischen
Buddhismus vermeiden auffällig die Diskussion über dessen Schattenseiten.
Dies hat sich in diesem Jahr (1999), wesentlich unter dem Einfluss unseres
Buches (V. & V. Trimondi - "Der Schatten des Dalai Lama")
verändert. V. Brück fordert seit neuestem eine kritischen
Auseinandersetzung mit dem tibetischen Buddhismus und der tibetischen
Geschichte, eine Haltung, die er jahrelang nicht wahrgenommen hat.
Seine neue kritische Attitüde schließt jedoch den
Dalai Lama weitgehend als zu kritisierende Person aus. Es sind dessen
Umfeld, Teile der Tradition und der Geschichte Tibets, die von v. Brück
"behutsam" problematisiert werden, nicht aber der tibetische Hierarch
selber. Er soll aus dem kritischen Unwetter, der im deutschsprachigen Raum
gerade erst begonnen hat, gereinigt als ein Reformator hervorgehen, der
Tradition und Moderne gelungen miteinander verknüpft, als ein Vorkämpfer
gegen die restaurativen Tendenzen innerhalb des Buddhismus und als der
höchste Repräsentant des ökumenischen Gedankens in unserer Welt. Das ist -
kurz gesagt - die Absicht die Michael v. Brück mit seinem neuesten Buch
"Religion und Politik im tibetischen Buddhismus" verfolgt,
welches im Herbst 1999 im Kösel Verlag erschienen ist.
Diese Publikation wurde auf verschiedenen
Veranstaltungen und in der Verlagsszene als das "Anti-Buch" oder
"Gegenbuch" zum "Der Schatten des Dalai Lama" von
Victor und Victoria Trimondi angekündigt. In einer Werbung des Verlages ist
zu lesen: "Den phantastischen und bizarren Fehlwahrnehmungen Tibets
und des Dalai Lama, die bis heute auch in Deutschland andauern, wird in
diesem Buch eine historisch analytische und ausgewogene Darstellung einiger
wesentlicher Aspekte der tibetischen Religionskultur und Politik
entgegengestellt." - Mit "phantastischen und bizarren
Fehlwahrnehmungen Tibets" ist vor allem unser Text (V. & V.
Trimondi) gemeint. Es liegt nahe, dass wir uns als Autoren mit diesem "Gegenbuch"
ausführlich auseinandersetzen.
Michael v. Brück hat - unserer Ansicht nach - mit
seiner Schrift dem Dalai Lama und dem Lamaismus, die er verteidigen wollte,
insgesamt einen Bärendienst erwiesen, da sich der Autor in unlösbare
Widersprüche verwickelt und dadurch die ganze Dubiosität des tibetischen
Systems noch offenkundiger macht. Bevor wir auf diese Widersprüche
eingehen, möchten wir ihm jedoch erst einmal unseren Dank aussprechen, denn
trotz des apologetischen Charakters seines Buches verweist er auf einige
wichtige Punkte, die (bis zum Erscheinen unseres Textes) in der größeren
Öffentlichkeit kaum diskutiert werden konnten. Durch sein
"Antibuch" bringt er zweifelsohne die Diskussion über den
Buddhismus voran. Die folgenden in seinem Text zugestandenen Fakten und
dort entwickelten Kommentare bilden schon eine gute Basis, auf der man eine
Debatte aufbauen kann.
1. Die tibetische Geschichte,
speziell die Geschichte der Dalai Lamas, verlief blutig, insbesondere
kämpften die verschiedenen Mönchsfraktionen gegeneinander um die politische
Macht. Noch vor zwei Jahren war im "Spiegel" (1998) über den
Buddhismus zu lesen: "Zweieinhalbtausend Jahre Friedfertigkeit statt
Inquisition, stets heiter wirkende Mönche statt präpotenter Kirchenfürsten,
Nirvana Hoffnung statt Djihad Drohung - der Buddhismus tut keinem
weh und ist trendy geworden." (Spiegel, 16/1998, 109) .
2. Die sexualmagischen Rituale
der Tantras werden durch die Lamas mit realen Frauen durchgeführt und sind
nicht nur symbolisch zu verstehen. Dabei werden Mädchen ab 10 Jahren
benutzt.
3. Auch im Kalachakra Ritual
finden sexualmagische Riten statt. Es handelt sich hierbei um ein
(weitgehend unbuddhistisches) apokalyptisches System, in dem sich die
Kräfte des Guten und der Bösen in einer Endschlacht bekriegen.
4. Der Shambhala Mythos trägt
aggressive Züge und richtet sich gegen den Islam.
5. Mythos, Ritual und Politik
bilden im tibetischen Kulturgefüge eine Interdependenz.
6. Der Dalai Lama richtet seine
Politik nach dem Orakelwesen und lässt sich von "Göttern"
beraten. Hinter der Shugden Affäre verbirgt sich ein Krieg der
Orakelgötter.
Wir freuen uns, dass wir v. Brück durch unser
kritisches und "umstrittenes" Buch dazu inspiriert haben, diese
problematischen Aspekte des tibetischen Buddhismus endlich öffentlich zu
bestätigen. Wer die bisherigen Arbeiten des Autors durchliest, der wird
ähnliche Äußerungen selten finden. Ob er jedoch mit seinem
"Antibuch" wirklich eine ehrliche Debatte intendiert, wagen wir
zu bezweifeln. Dafür wird dort trotz selbstkritischer Eingeständnisse allzu
viel verstellt, beschönigt und bewusst verfälscht. Es erscheint viel mehr
als eine kosmetische Operation an einer Religion, die zunehmend ihr
"lächelndes" Gesicht verliert.
Man sieht dem "Antibuch" sofort an, dass
es ursprünglich als eine Antwort auf die so genannte Shugden Affäre
konzipiert war, die immer noch die exiltibetische Community in zwei Lager
spaltet (siehe unten). V. Brück wollte das Verbotsedikt des Dalai Lama,
(dieser hatte die Ausübung des Shugden Kultes untersagt), geschichtlich,
politisch und metapolitisch ("spirituell") legitimieren.
Letzteres war vor allem deswegen notwendig, weil die Affäre, bei der es um
Götter, Geister, Trancen, Orakel, Beschwörungen, schamanistische Praktiken
und einen Ritualmord geht, das rationalistische und ethische Image des Dalai
Lama im Westen stark gefährdete.
V. Brücks ursprüngliche Absicht beim Verfassen
seines Textes bestand also in der kniffligen Aufgabe, einerseits die
metapolitischen Aktivitäten des Dalai Lama (insbesondere das obskure
Orakelwesen, aber auch die Durchführung des okkulten Kalachakra Rituals -
siehe unten) zu rechtfertigen, und ihn andererseits möglichst von jedem
Verdacht des Aberglaubens, der Magie und des Schamanismus reinzuwaschen. Es
ging ihm also zuerst einmal darum, zu zeigen, dass die tibetische Politik
eine Ausstrahlung der "religiösen Sphäre" ist (siehe dazu: S. 7).
Dann musste diese "religiöse Sphäre" als gut, edel, human und
ethisch hoch stehend geschildert werden. Die blutige sozialpolitische
Vergangenheit Tibets, die heute nicht mehr zu verschweigen ist, und die
zurzeit tobenden innertibetischen Streitigkeiten zwischen verschiedenen
Mönchsfraktionen (Shugden Affäre) können - nach v. Brück - den hohen
metapolitischen Idealen des tibetischen Buddhismus keinen Abbruch tun,
sondern sind als menschliche Schwäche und Unvollkommenheit zu bewerten.
"Politik" - so v. Brück - "trägt den Widerspruch zwischen
einer geglaubten Einheit der 'himmlischen Sphäre' und der Zerrissenheit
menschlicher Interessen in sich. Auch im Buddhismus gilt Politik dann als gelungen,
wenn zwischen beiden ein maßvoller Ausgleich hergestellt wird." (7)
Nach v. Brück kann man also durchaus eine
"Kriminalgeschichte" (die "Zerrissenheit menschlicher
Interessen") des historischen Lamaismus akzeptieren, ohne dass die
ideelle 'himmlische Sphäre', aus der die lamaistische Politik eigentlich
ausstrahlen sollte, davon berührt wird. Aber der tibetische Kosmos weist
nicht nur eine Erde und einen Himmel auf. Da es in dieser atavistischen
Religion von Teufeln, Dämonen, Monstern und Satanen aller Art nur so
wimmelt, muss der "himmlischen Sphäre" eine "höllische
Sphäre" entgegengesetzt werden, in der diese Widergeister ihr Unwesen
treiben.
Wir werden sehen, dass sich - in v. Brücks Buch -
die vielschichtige Politik des Dalai Lama schematisch in diesen drei Welten
(Himmel, Erde Hölle) und deren Beziehungen zueinander abspielt: Oben die
'himmlische Sphäre' mit ihren Buddhas, Bodhisattvas und Göttern; in der
Mitte die irdische Sphäre mit der "Zerrissenheit menschlicher
Interessen"; dazwischen der Dalai Lama, der den "maßvollen
Ausgleich" der beiden Sphären bewirkt; unten die 'höllische Sphäre' -
die "auf die menschlichen Repräsentanten dieser Sphäre" wie
Ketzer, "Feinde der Lehre" (zur Zeit auf die Shugden Verehrer) ausstrahlt;
zwischen irdischer und höllischer Sphäre wiederum der Dalai Lama, als
Kämpfer für das Gute und als Sieger über das Böse.
Die Shugden Affäre sollte - das lässt sich aus dem
"Antibuch" klar entnehmen - zum Anlass genommen werden, eine
sanfte "politische Theologie" des tibetischen Buddhismus zu
formulieren, die sich augenscheinlich mit den Werten der westlichen Kultur
verträgt. Bei v. Brück bleibt - im Gegensatz zu dem amerikanischen
Tibetologen Robert A. Thurman, der unverhohlen eine globale
"Buddhokratie" fordert - ein solcher Entwurf noch abstrakt, aber
dennoch eindeutig und ist der europäischen Aufklärung übergeordnet:
"Religion und Politik" - so der Autor - "hängen also eng
miteinander zusammen, und selbst in der europäischen Modernen ist es zu
keiner eindeutigen Trennung gekommen. Die Forderung, beide Bereiche nicht
miteinander zu vermischen, mag rational einsichtig sein oder nicht. In der
Geschichte aber ist Herrschaft immer religiös legitimiert worden, wenn
anders sie kaum Akzeptanz finden und dadurch Gesellschaften zumindest eine
relative Stabilität geben würde. Ob in China, Japan, Indien, ob in
afrikanischen Gesellschaften oder indianischen Kulturen Mittel- und
Südamerikas, ob im Alten Orient (Ägypten, Mesopotamien, Persien, Israel,
Juda und Rom) oder eben in Tibet - politische Macht wurde abgleitet von
kosmischer Macht, die im religiösen Kult vergegenwärtigt, gestärkt und
erneuert wurde. Selbst die griechische Polis konnte auf eine letztlich
religiöse Legitimation nicht verzichten und wehrte sich gegen die
Einführung 'neuer Götter', die den politischen status quo hätten verändern
können, wie der Prozess gegen Sokrates zeigt." (34) Wer die
"neuen Götter" sind, welche in den Westen eingeführt werden
sollen, der kann sich darüber aus dem jetzt erschienenen Buch von Robert A.
Thurman - Revolution von innen - informieren: Es sind die
tibetischen.
V. Brück geht also von der These aus, politische
Macht leite sich von der kosmischen Macht als einem principium generale
menschlicher Gemeinwesen ab, was selbst für die Moderne zutreffe und Tibet
sei hierfür nur ein - wenn auch sehr offensichtlicher - Spezialfall. Im
Bewusstsein des Westens bestehe zwar immer noch die Vorstellung, es gebe
eine Trennung der politischen und der religiösen Sphäre, dies sei jedoch
eine Illusion: "Religion und Politik sind nicht zwei getrennte
Bereiche menschlichen Handelns, sondern voneinander abhängige Aspekte von
gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen, denn Herrschaft und politisches
Handeln erfahren durch Religion Legitimierung, und umgekehrt prägen sich
politische Interessen in religiösen Ideen und im Kultus aus, d. h. durch
gesellschaftliche Gestaltungsprozesse wird Religion in politische Praxis
umgesetzt und nicht selten auch instrumentalisiert." (7) Dem können
wir voll zustimmen und v. Brücks Satz deckt sich mit der Erkenntnismethode,
mit der auch wir unser Buch geschrieben haben. V. Brück führt weiter aus,
dass die Tibeter kein solch "zerrissenes Bewusstsein" wie die
modernen Abendländer hätten; sie kultivierten eine "Gesellschaftsreligion,
bei der im System des tibetischen Buddhismus begründete Anschauungen und
Riten den Alltag der Tibeter aller sozialer Schichten so durchdringen, dass
kaum ein Unterschied zwischen religiösen und weltlichen Belangen
auszumachen ist." (37)
Wenn v. Brück wirklich dieser Meinung ist, dann
muss er nach der Lektüre unseres Buches geschockt gewesen sein. "Der
Schatten des Dalai Lama" geht nämlich ebenfalls vom tibetischen
Buddhismus als einer "Gesellschaftsreligion" aus, bei der es
"kaum einen Unterschied zwischen religiösen und weltlichen
Belangen" gibt. Soweit sind wir der gleichen Meinung wie er. Aber wir
konnten in unserem Text nachweisen, dass es gerade die "religiöse
Sphäre" des Lamaismus ist, welche die inhumane, repressive,
frauenverachtende, kriegerische, atavistische Geschichte, Politik und
soziale Realität des Schneelandes widerspiegelt. Nicht hohes Ideal und
düstere Wirklichkeit stehen sich in der Geschichte des tibetischen
Buddhismus als zwei schwer zu versöhnende Pole gegenüber, sondern ein
atavistischer Glaube prägte und prägt eine atavistische Gesellschaft und
strebt eine atavistische Herrschaft über die Welt an.
Ein Buch mit dem Titel "Religion und Politik
im tibetischen Buddhismus" ist dazu aufgefordert, nicht nur die
"menschlichen Schwächen" der lamaistischen Sekten (sprich ihre
Realpolitik) zu zeigen, sondern die tibetische Religion selbst unter die
kritische Lupe zu nehmen. Die Monströsitäten des tibetischen Buddhismus
sind aber, wenn erst einmal bekannt, so unerträglich, dass darüber von den
Protagonisten dieser Religion besser geschwiegen wird. V. Brücks
Behauptung, bei den Tibetern "leite sich politische Macht ... von
kosmischer Macht (ab), die im religiösen Kult vergegenwärtigt, gestärkt und
erneuert wurde." - erweist sich als riskant, wenn sich diese Kulte als
abscheulich, menschenverachtend, manipulativ und misogyn herausstellen.
Dafür gibt es aber genügend Beweistücke, die wir in unserem Buch vorgelegt
haben. Um die Situation zu retten, ersann sich v. Brück nun folgenden
Kunstgriff - alle als negativ einstufbaren Aspekte der "religiösen
Sphäre" (wie zum Beispiel der aggressive Shambhala Mythos) sollen
keine Auswirkungen auf die Politik haben - alle positiven Aspekte des
tibetischen Glaubens dagegen zeigen eine enge Verflechtung von Religion,
Ritual, Geschichte und Politik. So werden die "Schattenseiten des
Dalai Lama", sprich die problematischen Mythen, die er vertritt, und
die sexualmagischen Machtrituale, die er zumindest symbolisch durchführt,
als politisch unwirksam auf die Seite geschoben.
TIBET
EIN LAND WIE JEDES ANDERE AUCH?
Schon gleich zu Anfang seines Buches verschafft
sich v. Brück einen Freibrief, indem er den gerade von uns beschriebenen
Kunstgriff anwendet: Er entmystifiziert zuerst einmal die altibetische
Gesellschaft und ihre Historie. Im Westen werde
die Geschichte Tibets oder des Lamaismus entweder überzogen positiv oder
überzogen negativ dargestellt. Beide Tibetbilder hätten mit dem wirklichen
Tibet nichts zu tun, sondern seien Projektionsflächen für abendländische
Phantasien oder Ängste. Tibet sei ein Land wie jedes andere auch:
"Tibet war und ist eine normale
Gesellschaft mit großen Veränderungen in der Geschichte und mit
spezifischen Merkmalen, die in ihren politischen, wirtschaftlichen und
religiösen Koordinaten beschrieben werden können." (29) Wenige Seiten
später aber repräsentiert das alte Tibet eine einzigartige und ganz und gar
keine normale "Gesellschaftsreligion", "bei der im System
des tibetischen Buddhismus begründete Anschauungen und Riten den Alltag der
Tibeter aller sozialer Schichten so durchdringen, dass kaum ein Unterschied
zwischen religiösen und weltlichen Belangen auszumachen ist." (37)
Tatsache ist: Tibet war nie ein Land wie jedes
andere. Die tibetische Kultur ist von äußersten Extremen gekennzeichnet,
die es zwar auch in anderen Kulturen gegeben hat, jedoch konnte dieses
mittelalterliche System bis in unsere Zeit hinein ohne einschneidende
Reformen überleben. Allein dieser Anachronismus macht es zu etwas ganz
Außergewöhnlichem. Doch schon seit alters her setzen krasse Widersprüche
die tibetische Gesellschaft ständigen Zerreißproben aus. So standen sich
hier ein hoher ethischer Anspruch von Mitgefühl und Gleichmut (Mahayana
Buddhismus) und eine von grässlichen Dämonen geplagte Welt gegenüber.
Nicht einfache Menschen und Mönche übten auf dem "Dach der Welt"
die politische Gewalt aus, sondern die Inkarnationen von Überwesen, die in
der Hierarchie noch über den Göttern standen. In den tantrischen Riten
wurde die Frau als eine "Göttin" angebetet, außerhalb der
sexualmagischen Rituale aber, in der Gesellschaft und im monastischen
Leben, spielte sie eine völlig untergeordnete und verachtungswürdige Rolle.
Der Tibetologe Geoffrey Samuel hat in seinem umfangreichen Werk Civilized
Shamans - Buddhismus in Tibetan Society diese Extremgesellschaft
geradezu als einen positiven Kulturentwurf für Konfliktlösungen
darzustellen versucht. Dazu mag man stehen wie man will, aber Tibet als ein
"normales" Land wie jedes andere zu präsentieren, wie es v. Brück
am Beginn seines "Antibuches" tut, bedeutet einfach, die
beispiellosen Dissonanzen und Konflikte, die diese Kultur auszutragen hat,
zu leugnen. Tibet ist auch nicht deswegen ein "Land der
Geheimnisse", weil esoterikgierige Westler dies dort hinein projiziert
haben, sondern weil der tibetische Buddhismus eine Mysterienreligion
darstellt und deswegen - seinem eigenen Verständnis nach - zutiefst okkult
ist.
An anderer Stelle wendet sich v. Brück
gegen ein "verzuckertes und auch verkitschtes Tibetbild ... (das) in
der Öffentlichkeit hollywoodartig verbreitet worden (sei)." (Interview
im Bayrischen Rundfunk) Als Beispiele nennt er die beiden Filme Kundun
von Martin Scorcese und Sieben Jahre in Tibet von Jean Jacques
Annaud. Auch in diesem Fall wiederholt v. Brück den Stereotyp,
ausschließlich westliche Sympathisanten des tibetischen Buddhismus seien
für dieses "verzuckerte Tibetbild" verantwortlich und sie seien
es, die jegliche Kritik beiseite schöben und eine seriöse Auseinandersetzung
mit der Kultur des Schneelandes verhinderten. Damit werden die Exiltibeter
und der Dalai Lama von ihrer Eigenverantwortung völlig reingewaschen. Das
Gegenteil ist der Fall! Tibetische Lamas haben schon vor ihrem Exil mit
großer Dankbarkeit den westlichen Exotismus aufgegriffen und bewusst gefördert.
Heutzutage baden sich viele von ihnen geradezu in dem okkulten Ambiente,
das ihnen von westlicher Seite bezeugt wird.
Tatsache ist fernerhin, dass der Dalai Lama selber
tüchtig an diesem "verzuckerten Tibetbild" mitmalt. Er hat zum
Beispiel intensiv an dem Drehbuch für den Hollywood Film Kundun
mitgearbeitet und er ließ mehrere Treffen, auf denen über den Film
debattiert wurde, mit Scorcese arrangieren. Er
selber war also an der Produktion dieses "Tibetkitsches" (v.
Brück) beteiligt. In beiden Filmen (Kundun und Sieben Jahre in
Tibet) spielen Mitglieder der Dalai Lama Familie wichtige
Nebenrollen, ein Großteil der Statisten waren "echte" tibetische
Mönche und als Berater fungierten hohe Lamas. Übrigens gibt es auch in
Bertuluccis süßem Buddhaepos Little Buddha einen waschechten Lama
als Schauspieler. Ebenso fördert der Lamaismus in vielen anderen Filmen das
exotische und reizvolle Bild seiner selbst. Er reagiert aber - unserer
Ansicht nach - mit dieser Eigenapotheose nicht nur auf eine Modeerscheinung
des Westens, sondern wiederholt eine bewußt inszenierte Selbstdarstellung,
die ebenfalls für die alttibetische Kultur charakteristisch war.
DIE
TIBETISCHE GESCHICHTE WAR BLUTIG!
In einem rasanten Schnellverfahren auf nicht
ganz 70 Seiten kompiliert v. Brück die tibetische Geschichte - angefangen
mit den Königen der Yarlung Dynastie aus dem 7. Jahrhundert bis hin zur
Politik des XIV Dalai Lama und seiner Exilregierung im Jahre 1999. Seine
historische Darstellung soll - nach eigenen Worten - ernüchternd sein, denn
"alles Leben ist leidvoll, voller Frustration und Unwissenheit. Das
ist eine Grundüberzeugung des Buddhismus, die selbstredend auch für die
Politik im Allgemeinen und für die tibetische Politik im besonderen
gilt." (105) Dieser kritisch-pessimistische Ansatz klingt viel
versprechend und ganz anders als die im Westen und unter den Exiltibetern
weit verbreitete Glorifizierung Alt Tibets. Aber die entscheidende Frage,
ob der tibetische Buddhismus angesichts der Tatsache, dass seine Geschichte
mit einer blutigen Feder geschrieben wurde, in seiner traditionellen Form
versagt haben könnte, verneint v. Brück mit entschlossenem Nachdruck:
"Die nüchterne Bilanz der Geschichte Tibets bedeutet für den
tibetischen Buddhismus nicht, dass die Lehren Buddhas wenig bewirkt hätte,
sondern dass sie immer neu praktiziert, kreativ angewendet und von
Fehlentwicklungen gereinigt werden muss." (106) Der Autor kommt also
zu dem Fazit: Die buddhistische Lehre ist nicht nach ihren Auswirkungen auf
die Geschichte (Fehlentwicklungen) zu beurteilen, sondern ausschließlich
nach den Idealen, welche sie aufstellt. Da aber Religion und Politik bei
den Tibetern - nach v. Brücks eigener Aussage - nicht zu trennen sind,
verstrickt er sich in heillose Widersprüche.
Die Könige, die vor der weltlichen Herrschaft
der lamaistischen Klöster Tibet regierten (vom 7. bis zum 9. Jh.), werden
in v. Brücks Buch entsprechend der üblichen Geschichtsklitterung als
mitfühlende "Dharmarajas" (Gesetzeskönige) gepriesen, welche die
Lehre des Gautama Buddha im Schneelande verbreiteten. Tatsächlich war schon
der erste von ihnen, Songsten Gampo (629-649), ein gefürchteter Feldherr,
der im 7. Jahrhundert das tibetische Reich zusammeneroberte. Ob er
überhaupt jemals den buddhistischen Glauben angenommen hat, ist unter den
Historikern zweifelhaft. Der König lavierte aus politischen Gründen
zwischen verschiedenen Kulten hin und her und forderte (höchst
unbuddhistisch) noch für sein Begräbnis Menschenopfer. Seine Akte als
Importeur chinesischer und indischer Kulturgüter mögen nicht in Frage
gestellt werden. Dank historischer Dokumente wissen wir jedoch, dass seine
Kriegsführung so gnadenlos war, dass die Buddhisten (!) Innerasiens vor ihm
als einem grausamen Teufel erzitterten.
V. Brück spielt - im Geist der tibetischen
und exiltibetischen Mythenbildung - die chinesische Gattin Songsten Gampo
hoch und diskutiert die Legende, die Landesmutter sei eine Inkarnation der
Göttin Tara gewesen (die tibetische Maria/Sophia). Dazu ist erst einmal zu
sagen, dass diese Inkarnationsstory eine Erfindung späterer Jahrhunderte
sein muss, denn der Tara Kult wird erst ca. 400 Jahre nach dem Tode des
Königs durch den indischen Gelehrten Atisha (990 - 1055) in Tibet populär
gemacht.
Die Tara-Legende veranlasst von Brück zu
einem kurzen philosophischen Diskurs, in dem er die sanfte Göttin als das
"Prinzip der politischen Macht" (41) darstellt, so wie dieses in
der tibetischen Geschichte verstanden worden sei: "Wir wollen an
dieser Stelle etwas genauer auf die Gestalt der Tara eingehen, denn in ihr
verkörpert sich die religiöse Sehnsucht der Tibeter wie in kaum einer
anderen Figur des tibetischen Pantheons, und sie hat, wie man seit Songtsen
Gampo sehen kann, auch politische Bedeutung. Weil sie sich in den
Herrschern (Königen, Dalai Lamas) manifestieren kann. Damit wird durch ihre
Eigenschaften das Ideal der Herrschaft in Tibet überhaupt
gekennzeichnet." (41) Tara als das Herrschaftsideal der Tibeter?
Zuerst einmal - uns ist von einer
Manifestation der Tara in den Dalai Lamas nichts bekannt. Der Dalai Lama
wird als eine Ausstrahlung des Bodhisattva Avalokiteshvara angesehen und
Tara war - der Doktrin nach - eine Emanation dieses Bodhisattvas. Sie soll
aus einer seiner Tränen entstanden sein. Deswegen können wir den Dalai Lama
(korrekter, den hinter ihm wirksamen Avalokiteshvara) geradezu als den
Inkarnationsvater der Göttin ansehen. Er steht hierarchisch über ihr.
Entsprechend inkarniert sich Tara (als Herrschaftsideal) in Königen und
Königinnen, Fürsten und Äbten, die spirituell
dem Avalokiteshvara (sprich: Dalai Lama) untergeordnet sind, zum Beispiel
in allen russischen Zaren und Zarinnen seit Katharina II oder in der
englischen Königin Victoria, aber auch in chinesischen Kaisern. All das
sind historische Persönlichkeiten, die recht wenig die Eigenschaften einer
pazifistischen Tara (tibetischen Madonna) aufweisen.
Wichtig erscheint uns jedoch die Aussage,
dass sich Tara meistens in männlichen Potentaten manifestiert. Mit
der Anerkennung dieser Tatsache - wir sind darauf in unserem Buch "Der
Schatten des Dalai Lama" ausführlich eingegangen (S. 366 ff.) -
bestätigt v. Brück unsere These, dass im tibetischen Buddhismus weibliche
Energie (Gynergie) zu androzentrischen Machtzwecken ausgebeutet wird.
Die sanfte Tara hat im Übrigen, wie alle
tibetisch-buddhistischen Gottheiten, auch einen Schattenaspekt, eine
destruktive und sexualmagische Seite in der Form der Kurukulli
(siehe "Der Schatten des Dalai Lama" - S. 373). Von Brück blendet
diesen dunklen Teil der Göttin wohlweislich aus, insbesondere weil es ihm
bei der "gütigen" und "mitfühlenden" Tara um das
"Prinzip der politischen Macht" geht, von der er suggerieren
möchte, dieses Prinzip sei bei den Tibetern "gütig" und
"mitfühlend" gewesen. Wir werden von nun an immer wieder sehen,
dass er in seinem "Antibuch" - mit wenigen Ausnahmen - nur die
"lichtvollen" Szenarien der tibetischen Religion aufführt und die
nicht zu leugnenden dunklen Kapitel der tibetischen Geschichte. Allein im
Fall der Shugden Gottheit macht er eine Ausnahme.
V. Brück diskutiert die Göttin Tara als
"Prinzip der politischen Macht" im Zusammenhang mit der
chinesischen Gattin König Songsten Gampo unter anderem, um die grausame
Kriegsführung des Yarlung Herrschers zu verschleiern. Der schöne Mythos
von der gutherzigen Göttin (Symbol einer gutherzigen Herrschaft) soll zudem
noch einen anderen hässlichen Mythos verdecken, der ebenfalls das
"Prinzip der politischen Macht" als die Beziehung des Königs zu
einem weiblichen Wesen darstellt. Dieser Mythos ist deswegen von so großer
Bedeutung, weil er sehr illustrativ zeigt, wie die Buddhisierung des Landes
von einem Gewaltakt gegen die "Mutter Tibet" (Srinmo), gegen die
als weiblich gesehene wilde Natur des Schneelandes ihren Ausgang nimmt.
Nach v. Brück stellt die grüne Tara "die
erdhaft-naturhafte Seite" des Weiblichen dar und symbolisiert deswegen
- das klingt schwer verständlich - die politische Herrschaft der Lamas über
das Schneeland, so als würden Politik und Natur im Alten Tibet eine Einheit
bilden. Bei dieser Interpretation handelt es sich erneut um eine schöne
Erfindung des Autors, denn der Lamaismus befand sich von seinen Anfängen an
in einem unerbittlichen Kampf mit den "erdhaft-naturhaften"
Kräften seines Landes. Der permanente Krieg mit Naturmächten und
Naturgeistern ist geradezu ein Wesensmerkmal dieser Hochgebirgskultur und
die Beziehung des Menschen zur Natur wurde in Tibet nicht durch
"Kooperation" und "Harmonie", sondern durch deren
gewaltsame Bezwingung und Unterwerfung charakterisiert. Dies geschah jedoch
weniger durch technische (wie im Westen) als durch magische Mittel. Das
ganze modische Gerede von der Natur- und Ökologie-Freundlichkeit des
tibetischen Buddhismus ist ein Kunstprodukt aus den Propagandawerkstätten
des XIV. Dalai Lama. (Siehe hierzu Geoffrey Samuel - Civilized Shamans -
Buddhism in Tibetan Society und "Der Schatten des Dalai Lama"
- S. 489 f.)
Die wilde "Natur" verdichtete sich
mythisch in der Gestalt der Riesengöttin Srinmo. Das grausame Geschick der
autochtonen Göttin und nicht das gütige Lächeln der Tara steht am Beginn
des tibetischen Buddhismus: Die Legende erzählt nämlich, dass Songtsen
Gampo die "Mutter Tibet" (Srinmo) gewaltsam gefesselt und dann
auf dem Erdboden angenagelt habe, um auf den 12 Nagelwunden die ersten
buddhistischen Klöster des Landes zu errichten. Auf dem blutenden Herzen
der Srinmo ließ er den Jokhang, das spirituelle Zentrum der gesamten
buddhistisch-tibetischen Religion, aufbauen. (Wahrscheinlich wurden im
Jokhang zu Zeiten der Yarlung Dynastie sowohl Kulthandlungen des Buddhismus
wie der Bön-Religion durchgeführt). Wie bestimmend und nachwirkend dieser
Gründungsmythos (von der Fesselung und Annagelung der Srinmo) für die
tibetisch-buddhistische Kulturgeschichte war und wie eng er mit der tantrischen
Weltanschauung übereinstimmt, das haben wir ausführlich in unserem Buch
"Der Schatten des Dalai Lama" dargestellt. (Siehe S. 352 ff.) V. Brück ersetzt den höchst beklemmenden
Srinmo Mythos, über den in feministischen Kreisen lebhaft debattiert wurde,
durch einen dezenten und harmlosen Tara Mythos, um die Diskussion über das
"Prinzip politischer Macht", das sich im tibetischen Buddhismus
sowohl sexualmagisch als auch mythologisch in der Unterdrückung des
Weiblichen ausdrückt, nicht aufkommen zu lassen.
Ein politisch-religiöser Machtcoup war auch
die "Entdeckung", dass König Songtsen Gampo eine Inkarnation des
Bodhisattva Avalokiteshvara (und damit eine Vorinkarnation des jetzigen
Dalai Lama). Diese "Entdeckung" wurde erst durch den V. Dalai
Lama im 17. Jahrhundert gemacht. Sie erwies sich für die Begründung und
Festigung seiner weltlichen Machtansprüche (und der seiner Nachfolger) als
eminent wichtig, denn er stattete sich dadurch mit der Aura des sakralen
Königtum aus. Als eine Wiedergeburt des Songtsen Gampo konnte der V. Dalai
Lama die realpolitische und spirituelle Befehlsgewalt über Tibet in sich
vereinigen und ein umfassendes "Priesterkönigtum" errichten,
welches bis heute andauert. Auch auf diese machtpolitische Manipulation des
"Großen Fünften" geht von Brück in seinem "Anti-Buch"
wissentlich nicht ein, um nicht die jetzige "Wiedergeburt" des
Kriegerkönigs Songtsen Gampo, den heutigen XIV Dalai Lama, zu
kompromittieren.
Knapp und zügig berichtet v. Brück über den
König Trisong Detsen (755 - 797), der Padmasambhava, die eigentliche
Gründungsgestalt des tibetischen Buddhismus, ins Land holte. V. Brück
verschweigt aber den extrem aggressiven und magischen Charakter dieses
"Religionsgründers". Auch das hat aktuelle Gründe, denn ebenso wie
der grausame König Songtsen Gampo ist der unheimliche und höchst okkulte
"Großzauberer" und Schamane Padmasambhava - der heute
herrschenden Doktrin nach - eine Vorinkarnation des jetzigen Dalai Lama. In
der Shugden Affäre (siehe unten) versucht der moderne XIV "Gottkönig"
seine eigenen schamanistischen Aktivitäten, welche seinen Okkultismus
bloßstellen könnten, auf seine Gegner (die Shugden Verehrer) zu übertragen.
Bei einer Diskussion über den XIV Dalai Lama als einer Inkarnation des
Padmasambhava würden nicht nur höchst peinliche Ereignisse (die nichts mehr
mit dem ursprünglichen Buddhismus zu tun haben) an Tageslicht treten,
sondern es würden auch machtpolitische Kämpfe zwischen verschiedenen
Mönchsfraktionen (Gelug-pa versus Nyingma-pa) aktualisiert.
Ebenso bewusst verschweigt v. Brück die
repressive Staatspolitik des späteren Königs Ralpachan, übrigens der
einzige Yarlung Herrscher, dessen absolute Loyalität gegenüber dem
Buddhismus verbürgt ist. Heute würde man ihn als einen fundamentalistischen
Fanatiker bezeichnen, für v. Brück ist er dagegen ein gelehrter Wegbereiter
der buddhistischen Lehre. Im "Der Schatten des Dalai Lama"
schreiben wir auf Seite 523 über Rapalchan zu lesen:
"Allein der vorletzte König der
Dynastie, Ralpachan, kann als ein überzeugter, ja fanatischer Anhänger des
Buddhismus angesehen werden. Dies ergibt sich unter anderem aus einem von
ihm erlassenen Gesetzestext, der die Rechte der Mönche weit über diejenigen
des gemeinen Volkes stellte. Wer zum Beispiel mit einem Finger auf einen
Ordinierten zeigte, dem sollte dieser abgeschnitten werden. Wer über die
Lehre des Buddhas schlecht redete, dem wurden die Lippen verstümmelt. Wer
einen Mönch schief ansah, dem stach man die Augen aus, und wer ihn bestahl,
der musste das Fünfundzwanzigste des Wertes ersetzen. Je sieben Familien
des Landes hatten für den Unterhalt eines Lamas aufzukommen. Der Herrscher
selbst unterwarf sich voll den religiösen Vorschriften und soll einem Sangha
(Mönchsgemeinschaft) beigetreten sein. Es ist nicht verwunderlich, dass er
nach der Durchsetzung eines solch harten Regimes im Jahre 838 n. Chr.
ermordet wurde."
Der Nachfolgekönig Langdarma, der viele
Gründe hatte, sich gegen den buddhistischen Terrorstaat seines Vorgängers
Ralpachan zu stellen, wurde Jahrhunderte lang zur Gegenfigur des
tibetischen Buddhismus schlechthin hochstilisiert und gilt bis heute als
der Erzbösewicht des Lamaismus. Immer wieder, wenn die Lamas auf den
hartnäckigen Widerstand von Personen gestoßen sind, die sich gegen ihren
repressiven Staatsbuddhismus auflehnten, erschienen ihnen diese als
Inkarnationen des ruchlosen Langdarma. Das gilt auch heute noch. Der letzte
Yarlung Herrscher (Langdarma) verbot die buddhistische Lehre und vertrieb
konsequent die Mönche aus ihren Klöstern. Seine ständig wiederholte
Verteufelung durch die Tibeter erscheint selbst für v. Brück dubios:
"Die Verfolgung des Buddhismus hatte keineswegs nur religiöse Motive,
und König Langdarma war vermutlich nicht der Schurke, als den ihn die
spätere tibetische Geschichtsschreibung gern darstellt." (47)
V. Brück unterschlägt aber die
kulturgeschichtlich und kulturpsychologisch eminent wichtige Auswirkung,
welche die rituelle Ermordung Langdarmas durch einen buddhistischen Mönch
(der an das Tötungsgebot gebunden war!) gehabt hat. Die verbrecherische Tat
schuf - nach der Meinung zahlreicher Tibetforscher - die Voraussetzung für
die Übertragung der weltlichen Herrschaft (die bis dahin ausschließlich
durch die tibetischen Könige und den Adel ausgeübt wurde) auf die
Priesterkaste und sicherte sich deswegen in der tibetischen Kultur den
Stellenwert eines Gründungsmythos. In einem Buch über "Religion und
Politik im tibetischen Buddhismus" hätte das Langdarma Ereignis einen
Zentralplatz einnehmen müssen, da es die delikate Frage nach der Beziehung
zwischen weltlicher und spiritueller Herrschaft klären hilft. (Siehe
hierzu: Paul, Robert A. - The Tibetan Symbolic World - Chicago, 1982
und in unserem Buch S. 522 ff.). Auch in diesem Fall geht von Brück mit
Kalkül einer prekären historischen Akupunkturstelle der tibetischen
Kulturentwicklung aus dem Wege.
Die folgende Zeit der Klosterherrschaft in
Tibet (vom 9. Bis 17. Jahrhundert) wird in dem "Antibuch" relativ
nüchtern dargestellt: Es zeigt die machtpolitischen Interessen der
verschiedenen Mönchsgruppierungen (Sakya-pa, Kagyü-pa und Gelug-pa) und
ihre Verflechtung mit der innerasiatischen Politik. Interessant der Passus
aus einem Dokument des chinesischen Kaisers, Kublai Khan, das an den
tibetischen Abt Phagpa (Sakyapa-Orden) gerichtet ist. Dort heißt es:
"Mönche sollten nicht untereinander Streit und keinerlei Gewalt
ausüben. Sie sollten friedvoll und glücklich zusammenleben." (53)
Ausgehend von der buddhistischen Lehre müsste eine solche Ermahnung ein
Gemeinplatz sein. Das Gegenteil aber war der Fall (und die Aufforderung des
Kaisers beruhte auf Erfahrungswerten): die Mönchsfraktionen führten
Jahrhunderte lang blutige Kriege gegeneinander, bei denen es Mord und
Totschlag gab. (Siehe S. 573 ff. "Der Schatten des Dalai Lama")
Das muss selbst v. Brück eingestehen: "Die Zeiten waren nicht
friedlich, und die Rivalitäten zwischen den tibetisch-buddhistischen
Schulen können zwar nicht als Religionskriege im engeren Sinn bezeichnet
werden, aber es waren Kämpfe zwischen rivalisierenden Mönchsorganisationen
um die weltliche und religiöse Macht in Tibet." (64)
So weit, so gut - aber kaum angelangt bei der
Präsentation des V Dalai Lama - beginnt v. Brück erneut mit seiner
Geschichtsklitterung, indem er versucht, die dunklen Seiten dieses
Machtdespoten, auf den im eigentlichen Sinne die Institution des Dalai Lama
als solche zurückgeht, zu übertünchen und herunterzuspielen. Er malt das
Bild eines besonnenen und weitsichtigen Landesvaters, der - gegen seinen
Willen und seine buddhistische Grundeinstellung - gezwungen ist, einen
grausamen "Bürgerkrieg" zu führen, (in dem er zahlreiche
Mitglieder anderer Mönchsorden durch ins Land gerufene Mongolenkrieger
massakrieren lässt). Die gnadenlose Kriegermentalität dieses Priesterkönigs
wird durch ein Gedicht deutlich, indem dieser die Vernichtung seiner Feinde
bis ins dritte Glied fordert:
Macht die
männlichen Linien zu Bäumen,
deren Wurzeln abgeschnitten werden.
Macht die weiblichen Linien zu Bächen,
die im Winter versiegen.
Macht die Kinder und Enkelkinder zu Eiern,
die gegen Felsen geschleudert werden.
Macht die Diener und Gefolgsleute zu Heuhaufen,
die durch Feuer verzehrt werden.
Macht ihre Wohnsitze zu Lampen, deren Öl verbraucht ist.
Kurz - vernichtet all ihre Spuren, selbst ihre Namen.
Die finstere okkulte Seite des V. Dalai Lama
(er ist der Verfasser eines umfangreichen Handbuches, das sich
ausschließlich mit rituellen Tötungspraktiken von Feinden beschäftigt),
seine Faszination für die Sexualmagie der Nyingma-pa (die er selber
praktizierte), seine dreisten Geschichtsfälschungen und vieles mehr, all
das sind höchst unerfreuliche Fakten, denn ein historisch exaktes Porträt
des "Großen Fünften" könnte peinlich werden, da sich der XIV
Dalai Lama ständig auf diesen seinen Vorgänger beruft und ihn zu seinem
größten Vorbild erklärt hat.
Im Kapitel "Verfall der Macht der Dalai
Lamas" werden von v. Brück ziemlich wahrheitsgetreu die komplexen
Machtkämpfe der verschiedenen Mönchsfraktionen im 18. und 19. Jahrhundert
geschildert. "Die politische Geschichte der nun folgenden Dalai Lamas
ist gekennzeichnet von Instabilität und Intrigen." (73) V. Brück
erwähnt die politische Ausschaltung (beziehungsweise Ermordung) von sieben
Dalai Lamas (VI-XII), die ehrgeizigen Ambitionen der Regenten und die
ständige Kollaboration von tibetischen Äbten mit den Chinesen oder
Mongolen.
Erstaunlicherweise wird diese unstabile Phase
in der tibetischen Staatsentwicklung jedoch als Argument gegen unser Buch
"Der Schatten des Dalai Lama" ins Feld geführt: "Der Dalai
Lama war nicht selten de facto ausgeschaltet. Die Politik lässt nirgends
erkennen, dass religiöse Mythisierungen oder gar tantrische
Herrschaftsmodelle zum Zuge gekommen seien. - Dies behaupten wiederholt und
auf historisch nicht nachvollziehbare 'metapolitische' Erwägungen gestützt Trimondi
(Röttgen)." (80) Wenn wir v. Brück richtig verstanden haben, so soll
dass heißen: Weil die Dalai Lamas in dieser historischen Zeitspanne
politisch so unbedeutend gewesen seien, darf man ihnen keinen
Machtmissbrauch durch den Einsatz von kriegerischen Mythen und durch die
Praktizierung tantrischer Rituale unterstellen. Das trifft aber nicht die
Sache und schon gar nicht unsere Interpretation der lamaistischen
"Metapolitik". Denn, selbst wenn die historischen Dalai Lamas
politisch ausgeschaltet sind, so bestehen die tantrischen Texte fort, in
denen die sexualmagischen Praktiken zu weltlichen und spirituellen
Machtzwecken und der Anspruch auf die Weltenherrschaft des Buddhismus
beschrieben sind. Diese Texte sind primär der Inhalt unserer Kulturanalyse.
Die Geschichte des XIII Dalai Lama, die
wesentlich aus einem Kompendium der empfehlenswerten Studie von M. C.
Goldstein - A History of Modern Tibet, 1913 -1914 - besteht, ist im
Großen und Ganzen in v. Brücks "Anti-Buch" objektiv dargestellt.
Was den XIV. Dalai Lama anbelangt, so ersparen wir uns einen längeren
Bericht über die allbekannten Klischees von der Mustergültigkeit dieser
jüngsten Inkarnation der "Gottkönige".
Einen besonderen Abschnitt weiht v. Brück der
"Frauenfreundlichkeit" des Lamaismus. V. Brück gesteht zwar zu:
"Die Frau hatte im tibetischen Buddhismus eine untergeordnet Stellung
inne. Allerdings" - aber fährt er fort - "wäre es falsch, von
einer grundsätzlichen buddhistischen 'Misogynie' zu sprechen, da der Mensch
durch die Frau geboren werde, das menschliche Leben aber leidvoll sei,
durch die Frau also Unheil komme. - Dieses Fehlurteil, das in dem Buch von
Trimondi ständig wiederholt wird, zeigt, dass hier wesentliche Grundlagen
der buddhistischen Kultur Tibets nicht zur Kenntnis genommen werden, dass
nämlich das menschliche Leben als Möglichkeit zur Freiheit und damit zur
geistigen Freiheit betrachtet wird." (93) Der misogyne Charakter des
traditionellen Buddhismus insgesamt, ist durch so viele literarische
Zeugnisse belegt, dass es eine Zumutung darstellt, wenn diese Tatsache von
v. Brück geleugnet wird.
Auch erhält das Leben als "Möglichkeit
zur Freiheit" nicht per se - wie der Autor suggeriert- einen
positiven Stellenwert in der buddhistischen Philosophie, sondern das
menschliche Leben dient dort nur als Instrument oder Fahrzeug, um
Erleuchtung zu erlangen. Gerade durch die bewusste Leiderfahrung (die das
Leben mit sich bringt) ist der Mensch dazu privilegiert (im Gegensatz zu
Göttern und Tieren), das "Rad des Lebens", das durch Geburt und
Tod charakterisiert ist, zu verlassen. Im Übrigen ist v. Brück auch dieser
Meinung wenn er am Ende seines Geschichtskapitels Bilanz zieht: "Alles
Leben ist leidvoll, voller Frustration und Unwissenheit. Das ist eine
Grundüberzeugung des Buddhismus." (105)
Es ist zwar eine begrüßenswerte
Aufklärungstat, wenn v. Brück in seiner Darstellung der Geschichte Tibets
von dem - selbst durch den "Spiegel" verbreiteten - Mythos, bei
der alttibetischen Gesellschaft habe es sich um eine Art Paradies auf Erden
(Shangri-la) gehandelt, Abstand nimmt. Aber diese Aufklärung ist
kalkuliert: Sie soll den Schein historischer Gewissenhaftigkeit
suggerieren, damit entscheidende Ereignisse aus der Geschichte Tibets,
insbesondere dann, wenn diese für den jetzigen XIV Dalai Lama kompromittierend
sein könnten, nicht wahrgenommen werden. Noch wichtiger ist es für den
Autor, die tibetische Religion von der Verantwortung für die tibetische
Geschichte rein zuwaschen. Die Geschichte ist - so v. Brück - der Ausdruck
menschlicher Schwäche, der tibetische Buddhismus dagegen der Ausdruck
höchster Ideale, von denen die politischen in der sanften Göttin Tara als
dem "Prinzip der politischen Macht" ihre Verdichtung finden
sollen. Durch diese Exkulpation der lamaistischen Orthodoxie von der blutigen
Geschichte des Landes erweist sich diese Schrift letztendlich als ein
religiöses Propagandawerk und als ein Pamphlet der Gegenaufklärung. Es ist
keineswegs ein "aufklärendes und sachkundiges Buch von einem
kompetenten Fachmann" (Klappentext) über "Religion und Politik im
tibetischen Buddhismus".
DIE SEXUALMAGISCHEN RITEN
V. Brück stellt den Tantrismus als eine späte
Entwicklungsstufe des Buddhismus dar, in der "die Kraft des Weiblichen
eine Akzeptanz" erfahre. (116) Aber wir haben im "Der Schatten
des Dalai Lama" detailliert auf mehreren hundert Seiten nachgewiesen,
dass diese "Akzeptanz" nur vorgetäuscht ist und einhergeht mit
einer systematischen Ausbeutung der weiblichen Kraft für männliche
Machtobsessionen. Es ist einfach gelogen, wenn v. Brück behauptet, dass
traditionell "im buddhistischen Tantrismus die Frau in ihrem
weiblichen Körper unmittelbar Buddhaschaft erfahren kann." (116) Das
ist allenfalls die Meinung der Feministin Miranda Shaw, auf die sich v.
Brück ausschließlich bezieht, nicht aber die Meinung der tibetischen Lehrer
aller Schulen. Die Erleuchtung der Frau spielt im Ritualwesen des
tantrischen Buddhismus eine völlig untergeordnete Nebenrolle und das weiß
v. Brück sehr wohl.
Es ist dagegen verdienstvoll, wenn der Autor
offen zugibt, dass es beim tantrischen Sexualakt zu einer körperlichen
Vereinigung der Geschlechter kommt, auch wenn er diese "nur" als
die grobstoffliche Erscheinungsform des Rituals beschreibt. Die meisten
Bewunderer des Dalai Lama und seiner Religion dürften ja bis heute von den
sexualmagischen Praktiken der tibetischen Religion nicht einmal etwas
ahnen. Von Brück stellt den tantrischen Sexualakt aber als ein
gegenseitiges Ereignis zwischen Mann und Frau dar. Dabei finde ein
energetisches Ereignis statt, dass der Autor wie folgt beschreibt:
"Sowohl bei der körperlichen wie bei der imaginierten Vereinigung der
Geschlechter kommt es darauf an, dass die Energie (Samenflüssigkeit, sukra)
nicht nach außen verschleudert wird ...." (152). Das ist keineswegs
immer so. In allen höheren Tantras wird gefordert, dass der Mann den Samen
der Frau (je nach Schule das Menstruationsblut oder andere feminine
Ausscheidungen) durch seinen Penis oder durch seinen Mund absaugt. Nie ist
dagegen von einer umgekehrten Methode, nach der die Frau das Sperma des
Mannes aufnimmt, die Rede. Im Gegenteil, dies wird als ein großes Unglück
angesehen und als ein Totalverlust männlicher Energie gedeutet, der nach
einigen Textkommentaren zum Ableben des Praktizierenden führen kann.
Als einzige Belegstelle für die Gleichberechtigung
der Partner im tantrischen Buddhismus zitiert das "Antibuch" die
Feministin Miranda Shaw, die sich auf einen hinduistischen (!) und nicht
auf einen buddhistischen Interpreten beruft. (S. 153, F. 218) In keinem der
uns bekannten und aufmerksam studierten höheren Tantra ist aber von einem
gleichwertigen Energieaustausch der beiden Partner die Rede, in allen
Fällen saugt der männliche Tantra Meister die Energie der Frauen
("Gynergie") ab. Ziel jedes buddhistischen Tantras ist die Herstellung
eines androgynen Zustandes in einem ausschließlich männlichen Körper.
Auch die gesamte (!) tantrische Symbolik des
Buddhismus läuft ebenso wie ihre mystische Physiologie auf eine
systematische Ausbeutung der weiblichen Energie ("Gynergie")
hinaus. Jeder, der sich etwas intensiver mit den einschlägigen Ritualtexten
auseinandersetzt und ihre Symbolsprache entschlüsselt, wird dies sehr bald
feststellen. Es handelt sich hierbei um eine sakrale Technik, die nicht nur
einen individuellen Erleuchtungsweg beschreibt, sondern eine
mikro-makrokosmische Dimensionen umfassen soll - d. h. eine Technik, mit
der durch die sexualmagische Instrumentalisierung des Weiblichen ein rein
androzentrischer Kosmos konstruiert wird. Dieser Nachweis ist das Herzstück
unserer Studie ("Der Schatten des Dalai Lama") und nimmt den
größten Teil der 800 Textseiten ein. Beim Tantrismus geht es weniger um
einen Missbrauch von jungen und unerfahrenen Frauen, sondern um ein
sexualmagisches System, das die Mönchskaste zur Festigung ihrer spirituellen
und weltlichen Machtansprüche anwendet.
Die Ausbeutung sexueller Energien - darüber kann
sich jeder sehr leicht informieren - ist Wesensinhalt der
tantrischen Texte und ihrer Symbolwelt und nicht - wie v. Brück uns immer
wieder vormacht - in der vergangenen sozialen Lage der Frau zu suchen:
"Nehmen wir aber an" - so der Autor -, "dass eine
androzentrische Dominanz bei der Überlieferungsgeschichte der Tantras
begründet werden könnte, so läge der Grund in der sozial untergeordneten
Stellung der Frau in den alten indischen wie tibetischen Gesellschaften,
doch dies ist ein Problem der Überlieferungsform und nicht des
wesentlichen Inhalts." (117) Da sich - nach v. Brück - die soziale
Stellung der Frau im heutigen tibetischen Buddhismus (seiner Ansicht nach
dank der Intervention des XIV Dalai Lama) wesentlich verbessert habe,
müsste sich folglich der Anteil von hohen weiblichen Lamas und hohen
männlichen Lamas die Waage halten oder zumindest müsste sich die
exiltibetische Inkarnationspolitik in diese Richtung hin entwickeln. Seit
dem lamaistischen Exodus aus Tibet seit Ende der 50er Jahre sind zahlreiche
Großäbte tibetischer Klöster gestorben und haben sich erneut inkarniert.
Kein einziger von ihnen (!) hat bei seiner Wiedergeburt die Gestalt einer
Frau gewählt. V. Brücks Elogen über die Gleichberechtigung der Geschlechter
in den traditionellen Tantras sind fadenscheinige Konstrukte, welche die
höchst problematischen Inhalte der tibetischen Sexualmagie verschleiern
sollen und eine aufklärende Debatte darüber verhindern. Diese wäre aber die
Voraussetzung für mögliche tiefgreifende Reformen.
Auch in dem Kapitel "Geschichte und
Grundbegriffe des Tantrismus" (118 ff.) blendet v. Brück alle heiklen
und okkulten Seiten der Tantras aus - insbesondere wird hier nicht
diskutiert, dass die tantrischen Texte, wenn auch unter dem ethischen
Postulat des Mahayana Buddhismus, bewusst Gesetzesübertretungen (sprich:
Verbrechen) kultivieren, um dadurch Erleuchtung zu erreichen. Die Heiligen
Einweihungstexte der Tibeter, die sogenannten Tantras, in denen
Sexualpraktiken und kriminelle Handlungen von den Initianten gefordert
werden, stünden - so v. Brück - unter dem ethischen Diktat der Sutras
(Reden des Buddha) und das würden wir in unserem Buch nicht beachteten.
"Denn Tantra darf im Buddhismus durchgängig nur auf dem Hintergrund
der Sutra interpretiert werden, was Trimondi nicht berücksichtigt."
(96) Das ist falsch! Wir haben die ethischen und erkenntnistheoretischen
Anforderungen, die den tantrischen Riten vorausgehen, sehr wohl
berücksichtigt und an vielen Stellen in unserem Buch "Der Schatten des
Dalai Lama" diskutiert (z. B. S. 77, 113, 130, 181 ....)
Ethische Normen kommen nicht dadurch zur Geltung,
dass man schöne moralische Worte von sich gibt und ethische Gesetze aufstellt
(z. B. wie v. Brück: "Die Motivation zur tantrischen Praxis ist im
Buddhismus altruistisch"- S. 124), sondern dass sich eine Person an
diese Worte und Gesetze hält und seine Handlungen (Praxis) danach
ausrichtet. Ethik ist nach Immanuel Kant Ausdruck der praktischen
und nicht der theoretischen (verbalen) Vernunft. Es gibt in der
Geschichte des tibetischen Buddhismus einen eklatanten Widerspruch zwischen
buddhistischem Ideal und "buddhistischer" Wirklichkeit, zwischen
den ethischen Normen aus den Sutras und der radikalen Aufforderung zum
Verbrechen in den Tantras. Dieser Widerspruch ist das Feld unserer
umfangreichen und detaillierten Untersuchung. Wir können nach unseren
Recherchen nicht mehr davon ausgehen, dass für einen tibetischen Lama die
Dämonen, die er "visualisiert, damit sie verschwinden, wenn sie genau
wahrgenommen und in ihrer Nichtigkeit erkannt sind" (v. Brück S. 128)
- auch wirklich verschwinden, denn wir haben ausreichend Beweise dafür
vorgelegt, dass dieser tantrische Exorzismus nicht funktioniert, sondern
dass selbst der XIV Dalai Lama zum Opfer der eigenen Dämonen geworden ist.
Im Zusammenhang mit der Shugden Affäre wird das ganz deutlich (siehe
unten). Dazu kommt, dass die Tantras ohne Einschränkung von der unethischen
Maxime ausgehen, dass der Zweck die Mittel heilige - eine Haltung, die wir
nicht teilen.
V. Brück behandelt in diesem Kapitel auch das
sogenannte Chöd Ritual und behauptet, wir hätten dieses als ein
"Frauenopfer" interpretiert (126), dabei zitiert er die Seiten
108 - 110 in unserem Text, die überhaupt nichts (!) mit dem "Chöd
Ritual" zu schaffen haben, sondern das "Chinnamunda Ritual"
beschreiben und kommentieren. Über das "Chöd Ritual" sprechen wir
ausführlich auf Seite 163 in einer Fußnote (14) und zeigen gerade
umgekehrt, dass im Chöd Ritus der männliche Schüler durch weibliche Wesen
(eine oder mehrere Dakinis) rituell (symbolisch) zerstückelt wird. Da v.
Brück sehr wohl weiß, dass er unserer Analyse in seinem
"Anti-Buch" wenig entgegenzusetzen hat, unterstellt er uns ständig
Behauptungen, die so überhaupt nicht in unserem Text zu finden sind. Das
ist billig und soll die Schwäche seiner Argumente verdecken.
Aber vergessen wir darüber nicht das
Verdienst des Autors, dass er mit seiner apologetischen Schrift dazu
beiträgt, die tantrischen Praktiken der Lamas in der breiten Öffentlichkeit
zu diskutieren und dass er die reale Durchführung der Sexualmagie im
tibetischen Buddhismus nicht ableugnet. Dies alleine ist aus dem Munde
eines so exponierten Fürsprechers dieser Religion schon eine kleine
Revolution.
Denn immer wieder werfen uns Buddhisten (auch der
tibetischen Schule) vor, wir würden den Lamas sexuelle Akte unterstellen,
dagegen seien die gesamten rituellen Vorgänge in den Tantras ausschließlich
symbolischer Natur. Bei den Sexualkontakten von Lamas mit ihren
Schülerinnen handele es sich - so wird gegen uns argumentiert - nur um
Missbräuche einzelner Lehrer, wie sie in allen Religionen vorkämen. Dagegen
spricht v. Brück offen über die Realität der Sexualpraktiken im tibetischen
Tantrismus (auch im Kalachakra Tantra), nimmt jedoch den Dalai Lama, weil
dieser als ordinierter Mönch an das Zölibatsgelübde gebunden sei, davon
aus. (152)
Ob der Dalai Lama mit realen Partnerinnen die
tantrische Vereinigung (yuganaddha) vollzogen hat oder vollzieht,
wissen wir nicht, in unserem Buch gibt es jedoch einige Hinweise darauf
("Der Schatten des Dalai Lama" - S. 348 ff.). Dass er aber als
Gelug-pa Mönch davon grundsätzlich ausgeschlossen sei, wie von v. Brück
behauptet, das muß als falsch bezeichnet werden. Auch Mitglieder dieser
Schule dürfen mit realen Partnerinnen praktizieren. Das ist durchaus die
herrschende Meinung in der Tradition. Ihnen (den Gelug-pa) ist nur
verboten, zu heiraten. In einer Fußnote gesteht v. Brück dies selber zu:
"Ob die Visualisierung der Vereinigung genügt oder der sexuelle
Kontakt rituell vollzogen werden muss, wird auch in der Gelug-pa Schule
unterschiedlich behandelt." (152, F. 216)
KINDBRÄUTE
Für die Benutzung von minderjährigen
Mädchen bei den tantrischen Ritualen hat v. Brück, selber Vater mehrerer
Töchter, ein erstaunlich volles Verständnis: "Wenn
in einigen Tantras die sexuelle Vereinigung mit einer Zwölfjährigen
empfohlen wird, so ist zu bedenken, dass zu jener Zeit in Indien die
Mädchen mit 11 oder 12 Jahren im Heiratsalter waren." (152, F. 216) Wir
zitieren in diesem Zusammenhang eine Stelle Rosalind Miles Buch Weltgeschichte
der Frau (S. 119 ff) über Kindbräute in Indien:
"Aber einem indischen Mädchen stand
die Last der Mutterschaft noch früher bevor: neun Monate nach Beginn der
Pubertät. Ihre Eheschließung lag weit zurück [die Kinder wurden schon mit
fünf oder sieben Jahren verheiratet], und der kluge Gatte hatte seine
Kindbraut schon lange an regelmäßigen Geschlechtsverkehr gewöhnt. Von der
ersten Blutung an schlief er mit ihr, um ihre 'ersten Früchte' kosten zu
können.....
Aber unter diesen Umständen gelang es
dem Ehemann nicht häufig, auch die Ernte einzufahren. Solche Kinderehen
entlarvten sich allzu oft als raffinierter Massenmord an Mädchen. Millionen
dieser jungen Ehefrauen starben jährlich an Unterleibsverletzungen oder der
Niederkunft. Noch 1921 hielt eine offizielle Volkszählung der britischen
Regierung statistisch fest, dass in den vorausgegangen zwölf Monaten 3 200
000 Kindbräute in Indien gestorben waren. Britische Armeeärzte berichten
über die Umstände:
A. - Neun Jahre alt. Tag nach der
Hochzeit. Linker Oberschenkelknochen verrenkt, Becken völlig zerdrückt,
Fleisch hing in Fetzten herab.
B. - Zehn Jahre alt. Konnte nicht
stehen. Starkes Bluten, tiefe Fleischwunden.
C. - Neun Jahre alt. So stark zerfetzt,
dass sie chirurgisch kaum noch zu heilen war. Ihr Mann hatte noch zwei
andere Frauen und sprach ausgezeichnetes Englisch.
D. - Sieben Jahre alt. Lebte beim
Ehemann. Starb nach drei tagen unter großen Qualen.
E. - Etwa zehn Jahre alt. Kroch auf
Händen und Knien zum Krankenhaus. Konnte seit ihrer Hochzeit nicht mehr
aufrecht stehen."
Für solche kulturelle Gepflogenheiten
Verständnis aufzubringen, wie es der christliche Theologe Michael von Brück
tut, ist verantwortungslos wenn nicht zynisch.
DAS
KALACHAKRA TANTRA
Auch bei der Darstellung der verschiedenen unteren
Einweihungen des Kalachakra Tantra geht v. Brück auf die sexual-symbolische
Bedeutung dieses vom XIV Dalai Lama präferierten Rituals ein. Dies ist
ebenfalls eine wichtige Aufklärungstat, denn kaum ein Nichtbuddhist im
Westen ist bisher über die sexualmagischen Geheimriten des Kalachakra
Tantra informiert worden.
V. Brück ahnt jedoch die Gefahr, die auf den Dalai
Lama zukommt, wenn die "metapolitischen" Absichten des Kalachakra
Tantra ("Rad der Zeit") in ihrer vollen Dimension bekannt würden.
Ständig führt der Kirchenfürst Teile dieses Megarituals vor einem großen
Publikum durch. Der Autor sieht darin eine Gefahr: "Die Folge davon
war allerdings auch, dass Missverständnisse und Fehlinterpretationen des
tibetischen Buddhismus aufkommen konnten: Denn die Einweihungen in das
Kalachakra Tantra wurden Tausenden von Menschen gegeben, die weder die
intellektuellen Voraussetzungen des Verstehens dieser komplexen Symbolik
mitbringen noch die Fähigkeit zur konzentrierten Visualisierung ausgebildet
haben, ohne die eine Bewusstseinsformation, um die es im Tantra geht, nicht
möglich ist. .... Die heutigen Massenveranstaltungen wandeln das
ursprüngliche Ritual der gezielten Bewusstseinstransformation in einen
allgemeinen Segen um, was sinnvoll sein mag oder nicht, jedenfalls aber
Fehldeutungen Vorschub leisten mag." (97)
Diese Entscheidung des XIV Dalai Lama für die
öffentliche Inszenierung des Kalachakra Tantra ist in der Tat rätselhaft,
einerseits zählen die Tantras zu den geheimsten Mysterien und können nur
nach "einem langen und eingehenden Studium" (v. Brück) verstanden
werden, andererseits wird eine Menschenmenge von Hunderttausenden in die
ersten sieben Stufen dieses Rituals eingeweiht, von dem es so gut wie
nichts versteht. Das erscheint alles äußerst obskur. Steht vielleicht
hinter der durch das Kalachakra Tantra - nach v. Brück - intendierten
"Bewusstseinstransformation" nicht in Wirklichkeit eine geschickt
arrangierte "Bewusstseinsmanipulation"? Nicht nur wir, sondern
auch andere Interpreten kommen zu diesem Schluss. So ist in der
anthroposophischen Zeitschrift Novalis zu lesen: "Eine [Info3-
] Redaktionsmitarbeiterin berichtete [nach dem Besuch einer öffentlichen
Initiation durch den D. L.]...., der Dalai Lama habe wegen des drohenden
und endzeitlichen Shambhala Krieges damit begonnen, immer mehr Menschen -
bei seinen großen Zusammenkünften - die Kalachakra Initiation als Bild in
den feinstofflichen Leib der Teilnehmer zu legen." (Siehe: Novalis,
Oktober 1999, S. 52)
Im Kapitel über das "Kalachakra Tantra"
wendet sich v. Brück mehrmals gegen unser Buch "Der Schatten des Dalai
Lama". Es gäbe darin Deutungen, "wonach der Dalai Lama als
Kalachakra Meister ('Herr der Zeit') die Weltherrschaft anstrebe und das
mythische Reich Shambhala als 'Buddhokratie' durch einen Weltkrieg in die
historische Realität zwingen wolle. Aber Mythos ist nicht Geschichte,
Utopie nicht Ideologie und der Tantra-Meister ist nicht ein Diktator."
(145)
Zuerst einmal ist dazu zu sagen, dass wir an keiner
(!) Stelle in unserem Text behauptet haben, der XIV Dalai Lama organisiere
einen Weltkrieg, in der Absicht der Welteroberung. Dagegen haben wir
sorgfältig und umfassend ausgeführt, dass der Dalai Lama ständig ein
großangelegtes Ritual (das "Kalachakra Tantra" oder "Rad der
Zeit") durchführt, welches als Ziel die Errichtung einer weltweiten,
kriegerischen Buddhokratie zum Inhalt hat. Das steht nun mal im
Originaltext und in dessen Kommentaren. Wir haben dieses Ritual ganz im
Sinne der tibetischen Tradition gedeutet. Eine Historisierung des
Kalachakra Tantra und des ihm entsprechenden Mythos (Shambhala) tritt -
nach lamaistischer Sicht - erst in mehr als 300 Jahren ein. Dem haben wir
niemals widersprochen. Wir verweisen jedoch in unserer Analyse mit mehreren
Beispielen darauf hin, dass der Shambhala Mythos (und das mit ihm
verbundene Ritualwesen) in der jüngsten Vergangenheit sehr bedauernswerte
historische Ereignisse beeinflussen konnte (z. B. den Fall Shoko Asahara)
und insbesondere vom Neofaschismus als ideologische Bezugsquelle benutzt
wird. Im übrigen gibt uns v. Brücks Satz die Bestätigung, dass im Text des
Kalachakra Tantra tatsächlich eine weltweite Buddhokratie durch
militärische Mittel anvisiert wird - doch (so der Autor oberlehrerhaft) -
handele es sich dabei nur um einen Mythos.
V. Brück "Antibuch" kontert weiter gegen
uns: "Für die Vorstellung einer Konversion der gesamten Menschheit zum
Buddhismus, womöglich noch gewaltsam, gibt es weder in seinen [des XIV
Dalai Lama] Schriften noch in seinem Verhalten auch nur den geringsten
Anhaltspunkt. - Die entsprechenden Behauptungen von Trimondi (Röttgen) sind
rein spekulativ." (98) Auch das haben wir nie so behauptet, wir weisen
ja gerade nach, dass es der Dalai Lama tunlichst vermeidet, über seine
"metapolitischen" Absichten und über die "Mysterien"
seiner Religion öffentlich zu debattieren. Andererseits aber zeigen wir auf,
dass er kontinuierlich und weltweit Rituale (das Kalachakra Tantra aber
auch die Errichtung des Meru-Mandalas) veranstaltet, welche expressis
verbis die Buddhisierung der Welt, ja des ganzen Universums zum Ziel
haben. V. Brück leugnet dies mit der Begründung (in Bezug auf unser Buch):
"Die eschatologischen Bilder des Kalachakra Tantra, die auf dem
dualistischen Mythos des Endkampfes des Guten gegen das Böse beruhen, als
real historische Ideologie interpretieren zu wollen, ist methodologisch
falsch und angesichts der gegenwärtigen historischen Situation der Tibeter
absurd. Es hat in der Geschichte der Dalai Lamas mit ihrer durchaus auf
Macht und Ausübung von Gewalt beruhenden Politik nie einen Bezug auf diesen
Mythos gegeben." (98)
Eine solche Behauptung des Autors ist im Hinblick
auf das geschichtliche Material und die hier im Westen zugänglichen
Dokumente eine Zumutung an die Leserschaft. Das Kalachakra Tantra gilt als
der "König" aller Tantras und stand spätestens seit Atisha (11.
Jahrhundert) im Zentrum des tibetischen Orthopraxis. Allen Dalai Lamas
(ebenso den Panchen Lamas) war dieses Ritual bestens bekannt. Der gemeinhin
als unpolitisch eingestufte VII Dalai Lama (1708 - 1757) interessierte sich
für nichts mehr als für eine künstlerisch-symbolische Konzeption der Kalachakra
Aufführung. Er beauftragte das Namgyal Institut, das bis heute
diese Aufgabe betreut, mit der rituellen Durchführung der äußeren
"Zeitlehre". Außerdem führte er in die allgemeine Liturgie des
Gelug-pa Ordens ein Kalachakra Gebet ein, das am achten Tage jedes
tibetischen Monats gesprochen werden muss. Ihm verdanken wir des weiteren
die Konstruktionspläne des Kalachakra Sandmandalas und die
Choreographie der komplizierten Tänze, die immer noch das Ritual begleiten.
Der XIV Dalai Lama hat - wir wiederholen es - das
Kalachakra Tantra öffentlich (und korrespondierend den dadurch evozierten
Shambhala Mythos) 25 mal teilweise vor Hundertausenden von Menschen
durchgeführt und nun soll es keinen Bezug der Dalai Lamas zu diesem Mythos
geben? Wie "mythologisch" und wie "metapolitisch" das
Kalachakra Tantra von offizieller Seite interpretiert wird, darüber kann
sich jeder Leser und jede Leserin selber informieren, indem sie sich die
beglaubigte Homepage von http://www.kalachakra.com
ansehen. Wer diese Internetseiten aufmerksam studiert, der wird sofort
erkennen, wie politisch ernst und konkret der moderne Lamaismus den
Shambhala Mythos nimmt. Dort ist auch die Vision eines hohen Lamas
abgedruckt, der gesehen haben will, dass der XIV Dalai Lama als der
kommende Shambhala König (Rudra Chakrin/ der "Zornige
Raddreher"), die buddhistischen Heere gegen die Armeen seines bösen
Widersachers (ein Vertreter des Islams) anführt.
MYTHOS
REIN - MYTHOS RAUS
V. Brücks oben zitierter Satz, den er als
Fundamentalkritik unseres Buch verlauten lässt, nämlich dass Mythen keine
Geschichte seien, Utopien keine Ideologien ("Aber Mythos ist nicht
Geschichte, Utopie nicht Ideologie und der Tantra-Meister ist nicht ein Diktator."
- 145) ist in der Tat entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob die
Riten, Mythen und Eschatologien des Kalachakra Tantra historische
Auswirkungen haben können. Ist das der Fall, dann gibt es keinen Zweifel
mehr daran, dass der Dalai Lama mit der Durchführung dieses Rituals eine
weltweite Buddhokratie anstrebt, denn ein solches Anliegen ist - wie sich
jeder informieren kann - zentraler Inhalt dieses Tantras. Wir werden uns
also von v. Brücks These, die grundsätzlich gegen die Kompatibilität von
Mythos und Geschichte spricht, genauer ansehen müssen.
Nicht einmal der Historizismus leugnet, dass Mythen
und Utopien am Anfang politischer Entscheidungen standen und als
"Ideologien" benutzt wurden. "Mythen" haben zum
Nationalsozialismus geführt (siehe: Alfred Rosenberg - Der Mythos des
20. Jahrhunderts), "Utopien" (siehe: Fourier, Marx und
Engels) setzten weltweit den Kommunismus in Gang. Aber auch v. Brück
plaudert an anderer Stellen seines "Antibuches" unbekümmert
davon, wie das Kalachakra Tantra und ähnliche Mythologeme das politische
(!) Leben des Buddhismus schon immer beeinflusst hätten: "Diese
Art religiöser Geschichtsmodelle [er bezieht sich hierbei auf das
Kalachakra Tantra und den Kausambi Mythos] und ihre Übertragung auf
politische Erfahrungen sind im Buddhismus durchaus nichts Ungewöhnliches.
Denn der Buddhismus verstand sich von Anfang an auf dem Hintergrund der
indischen Lehre von den vier Zeitaltern (Yuga)." (147) Die Yuga-Lehre
(welche die kosmologische Grundlage des Kalachakra Tantras ausmacht) -
darin sind sich alle (!) Religionswissenschaftler und Orientalisten gleich
welcher Richtung einig - ist ein Mythologem par excellence.
Doch fünfzig Seiten vorher war v. Brück noch der
Meinung, ebenfalls unter Bezugnahme auf das Kalachakra Tantra: "Es hat
in der Geschichte der Dalai Lamas mit ihrer durchaus auf Macht und Ausübung
von Gewalt beruhenden Politik nie einen Bezug auf diesen [Kalachakra]
Mythos gegeben." (98)
Dann wiederum - im vollen Gegensatz hierzu - sollen
tantrische Praktiken (!) die "Fehlentwicklungen" in der
tibetischen Geschichte heilen: "Die nüchterne Bilanz der Geschichte
Tibets bedeutet für den tibetischen Buddhismus nicht, dass die Lehren
Buddhas wenig bewirkt hätte, sondern dass sie immer neu praktiziert,
kreativ angewendet und von Fehlentwicklungen gereinigt werden muss - siehe
die tantrische Praxis im nächsten Kapitel" (106)
Also doch! - Rituale und Mythen wirken auf die
Politik! Vor der Neuzeit war "Macht" - so der Autor - "in
allen Kulturen in eine religiöse Sphäre eingebunden und strahlte von dort
auf die menschlichen Repräsentanten dieser Sphäre aus, auf Könige,
Bischöfe, Priester, Lamas usw. Auch der tibetische Buddhismus wurzelt in
diesem Weltbild ..." (7)
Bei der Lektüre der Schrift schwirrt
einem der Kopf: Mythos rein, Mythos raus - das "aufklärende und
sachkundige Buch des kompetenten Fachmanns" (der Verlag in der
Ankündigung des Klappentextes) ist ein Wetterhäuschen, aus dessen Türchen
je nach politischer Klimalage die eine oder die andere Theorie heraustritt
beziehungsweise verschwindet.
Steht dahinter Verwirrung oder Kalkül? - Wir
verfolgen die schillernde Mythentheorie von v. Brück weiter und werden bald
einen einfachen Mechanismus erkennen. Soweit der Kalachakra Mythos
(unlauterer Weise) von seinen sexualmagischen, kriegerischen und
aggressiven Absichten gereinigt dargestellt wird, hat er für den Dalai
Lama, für seine Anhänger und für v. Brück eine erhebliche politische
Aussagekraft. Dann beinhaltet er das "Friedensritual" par
excellence, wie es der "Gottkönig" ("innerer Beitrag zum
Weltfrieden") immer wieder betont, dann sollen seine in vielen Länder
durchgeführten Kalachakra Rituale heilwirkend die gesamte Weltpolitik
beeinflussen. Selbst die mikro-makrokosmischen Vorgänge im Körper der
Kalachakra Gottheit (die durch den Dalai Lama repräsentiert wird) sollen
sich - nach v. Brück - auf einmal "millionenfach in allen Einzelwesen
(wiederholen) ... Gelingt dies, ist ein Stück Welt 'heil' geworden und
damit ein Beitrag zur Harmonie, zur Einheit und zum Frieden geleistet. Dem
dient, wie gesagt die Kalachakra Initiation, die äußerst komplex ist, weil
alle (!) Erscheinungen der Wirklichkeit in das System integriert
sind." (148) Wenn das kein Mythos ist? Zu "allen Erscheinungen
der Wirklichkeit" (die in das System integriert werden) zählt doch
folgerichtig auch die Politik?
Aber nein! - Das Kalachakra Tantra hat weder was
mit der historischen Wirklichkeit, ja im Grunde nichts mit den tibetischen
Buddhismus zu schaffen - heißt es auf Seite 25 des Textes. Zuerst resümiert
v. Brück an dieser Stelle unser Buch: "Er [der Dalai Lama] folge damit
dem im Kalachakra Tantra vorgezeichneten Plan der Könige von Shambhala, die
am Ende der Zeiten ein buddhistisches Friedensreich auf Erden errichten
wollen. Die Politik des Dalai Lama sei eine 'Metapolitik' dieser
tantrisch-mythischen Struktur." (25) Diese Zusammenfassung, der wir in
ihrer Allgemeinheit zustimmen können, versucht v. Brück anschließend durch
folgendes Argument zu widerlegen: "Nun beruhen die Geschichtsdeutungen
des Kalachakra Tantra aber auf dem millennaristischen-apokalyptischen
Mythos, der aus Persien stammt und, in anderer Form, auch in der jüdischen
christlichen Apokalyptik auftritt: Das Friedensreich am Ende der Zeiten
wird nach einer 'Endschlacht gegen das Böse' von Gott selbst errichtet. Es
handelt sich nicht um eine Strategie für das geschichtliche Handeln
der menschlichen politischen Kräfte." Aber was ist jetzt mit dem schon
erwähnten Zitat von Seite 148, wo es von dem Kalachakra Zeremonie, als dem
höchsten Friedensritual heißt: "Gelingt dies, ist ein Stück Welt
'heil' geworden und damit ein Beitrag zur Harmonie, zur Einheit und zum
Frieden geleistet. Dem dient, wie gesagt die Kalachakra Initiation, die
äußerst komplex ist, weil alle (!) Erscheinungen der Wirklichkeit in das
System integriert sind."
Es ist erstaunlich mit welcher
Nonchalance v. Brück seine Theorien wechselt! Er setzt auf die
Unaufmerksamkeit der Leser und Leserinnen und verfasst seine Mythentheorie
je nach Gusto. Wenn es ihm ins "pazifistische" Konzept passt, -
wir wiederholen es - dann wirkt der Mythos fraglos auf die Geschichte, wenn
der Mythos aggressiv und unpopulär ist, dann handelt sich bei den
religiösen Bildern und Handlungen "nur um einen reinen Mythos",
der keinerlei Bezug zur Wirklichkeit habe. Michael v. Brück bedient sich
einer Logik, die hundertprozentig den von ihm erwünschten Effekt bringt:
Mythen, die der Politik des Dalai Lama nutzen, haben historische und
politische Auswirkungen; Mythen, die dem Dalai Lama nicht nutzen, haben
keinerlei Einfluss auf "das geschichtliche Handeln der menschlichen
politischen Kräfte".
Im okkulten Milieu des Neobuddhismus
ist auch der Mythos heimisch, dass das Leiden des tibetischen Volkes
sozusagen der Preis sei, der gezahlt werden mußte, damit der Lamaismus die
Welt erobern kann. Wir hätten - so v. Brück - diese "mythische"
Geschichtsinterpretation fälschlicherweise als eine Theorie des Dalai Lama
dargestellt und würden unseriös aus den Quellen zitieren. (105) - An keiner
Stelle haben wir in unserem Text behauptet, dass der Dalai Lama diese
Sichtweise öffentlich und persönlich gebilligt habe, sondern wir zeigen
auf, dass diese Opferlegende ein beliebter und weitverbreiteter Topos in
der esoterischen Szene des tibetischen Buddhismus ist und sich auch ohne
weiteres in die Ideenwelt des buddhistischen Tantrismus (insbesondere des
Kalachakra Tantra) einfügen lässt. Wir führen insgesamt drei Äußerungen von
pro-lamaistischen Autoren (das Opfer Tibets betreffend) an. Mit diesen
Leuten sollte sich v. Brück, wenn ihm deren Vorstellungen nicht passen,
auseinandersetzen, anstatt unser Buch durch boshafte Unterstellungen zu
diffamieren.
Eine ähnliche Opfer- beziehungsweise
Sühnebeziehung wird übrigens - von tibetischer Seite - zwischen dem
politischen Schicksal Tibets und der Karmalehre hergestellt. Ludger Lütkehaus bespricht in der NZZ vom 23.08. 1999 eine
Autobiographie, die vom Leibarzt des Dalai Lama (Tenzin Choedrak) verfasst
wurde. Der Autor erwähnt dort die karmische Schuld, welche sich die Tibeter
in ihrer Vergangenheit aufgelastet hätten: "Choedrak schliesst selbst
eine karmische Interpretation des tibetischen 'Schicksals' unter dem
chinesischen Terror nicht aus, fügt aber gleich hinzu, dass die Chinesen
dabei sind, ihr womöglich besseres Karma zu verspielen, während das
leidende Tibet, wenn es seine Feinde nicht hasst ....... besseres Karma
erwerben kann." Interessant wäre der Frage nachzugehen, weshalb sich
denn das vergangene Tibet schlechtes Karma aufgebürdet hat und worin seine
Missetaten bestanden.
Der tibetische Buddhismus ist ein Geflecht aus
Mythen, Zauberriten, rationalen Argumentationsketten, ethischen Postulaten,
extremen Initiationstechniken und okkulten Spekulationen. Das gilt nicht
nur für die Vergangenheit sondern in vollem Maße
auch für die buddhistischen Szenarien der Gegenwart, die v. Brück bestens
kennt, da er den esoterischen Zirkeln des Neobuddhismus schon seit Jahren
selber angehört. Er ist zudem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der
Zeitschrift für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, in
der "Beiträge zur wissenschaftlichen Fundierung des
Transpersonalen" veröffentlicht werden. Dort ist ständig von den
Auswirkungen des "Transpersonalen", der Archetypen und der Mythen
auf das Individuum, die Gesellschaft und die Politik die Rede.
Zusammenfassend ist zu sagen: V. Brück
weiß ganz genau, dass im tibetischen Religionssystem von einer
Geschichtsträchtigkeit der Mythen ausgegangen wird, aber er hat allen Grund
dies in den entscheidenden Fällen zu leugnen, wenn diese Mythen
kriegerisch, menschenverachtend, grausam und repressiv sind. Würde der
eminente Einfluss der unguten Archetypen (auf die tibetische Geschichte und
Politik) bekannt, dann wäre das Bild vom rationalen und ethisch
hochstehenden Dalai Lama zerstört und von Brück als designierter
"Brückenbauer" zwischen West und Ost möchte dies auf keinen Fall
zulassen, auch wenn es auf die Kosten der Wahrheit geht.
SHAMBHALA
AUCH NUR EIN MYTHOS?
V. Brück verweist mit Recht auf die
eschatologisch-apokalyptische Zielrichtung des im Kalachakra Tantra
integrierten Shambhala Mythos. Er erwähnt auch den "krassen
Dualismus", nach dem sich die Kräfte des Guten und des Bösen
gegenüberstehen und der dieses Tantra beherrscht, ebenso wie er dessen
kriegerischen Charakter betont: "In einer Endzeit wird ein einziger
Gewaltherrscher die ganze Welt mit Ausnahme Shambhalas erobert haben und
zornig, dass ihm noch nicht alles gehört, eine mächtige Streitmacht gegen
Shambhala aufbringen; doch der letzte Shambhala-König Rudrachakrin wird mit
einer gewaltigen Armee aus Shambhala hervorbrechen und alle Feinde des
Dharma vernichten, so dass endgültig Frieden in der Welt sein wird und der
Buddha-dharma wieder blühen kann. Die mächtigen Feinde der Gerechtigkeit,
die in einer großen Schlacht am Ende der Zeiten vernichtet werden, sind
historisiert und als Heerscharen des Islam identifiziert worden. Dies ist
der einzige historische Charakterzug dieses utopischen Reiches, das
ansonsten ganz in den Mythos gehört ....." (156) Erneut klingt das
Brück'sche Leitmotiv an, das wir schon kennen: "Der Mythos hat nichts
zu tun mit der Geschichte."
Bei seiner Darstellung des für den Dalai Lama und
sein politisch-religiöses System so wichtigen Shambhala Mythos, den er als
etwas Unbedeutendes herunterspielt, verschweigt v. Brück sieben wichtige
Punkte:
1. V. Brück verschweigt die für
den Buddhismus befremdliche Faszination für mörderische Kriegsmaschinen,
die im Shambhala Mythos geschildert werden und die von heutigen Lamas als
eine Vorhersage atomarer Waffen interpretiert werden.
2. V. Brück verschweigt, dass
sich die im Shambhala Mythos verherrlichte Kriegsmentalität mit dem
charakteristischen und durchgängigen Kriegerethos, das die tibetische
Kultur insgesamt bestimmt hat und immer noch bestimmt, deckt.
3. V. Brück erwähnt zwar die
"moderne" politische Instrumentalisierung des Mythos unter dem
Burjaten Agvan Dorzhiev und durch den mongolisch-lamaistischen Widerstand
gegen die Bolschewiki (20er Jahre). Er verschweigt jedoch den eminenten
Einfluss der Shambhala Vision auf die Ideologie des Neofaschismus (Miguel
Serrano u. a.) und auf das religiöse System des japanischen Sektenführers
Shoko Asahara.
4. Trotz der politischen
Benutzbarkeit des Mythos diskutiert v. Brück nicht die große Gefahr, die
von der Prognose ausgeht, dass der "endzeitliche
Gewaltherrscher", der Shambhala erobern will, ein Moslem sein soll. In
der aktuellen Auseinandersetzung des Westens und Asiens mit dem Islam
bietet eine solche Prophezeiung einen gefährlichen Sprengstoff.
5. V. Brück verschweigt, dass
das künftige Shambhala Reich eine politisch-administrative Organisation
aufweist, die wir als "Buddhokratie" bezeichnen müssen. Er
erwähnt nur am Rande, dass das Ziel des Shambhala Krieges die Buddhisierung
des gesamten Erdkreises ist.
6. V. Brück versucht den Mythos
zu interiorisieren und zu verpsychologisieren, indem er ihn als den
"inneren" Bewusstseinsprozess eines Inititianten deutet. Dem
widersprechen sowohl traditionelle als auch moderne tibetische Lehrer.
(Siehe "Der Schatten des Dalai Lama" S. 286 ff). Außerdem ist die
Frage "Shambhala innen oder Shambhala außen" falsch gestellt, da
im magischen Religionssystem der Tibeter eine solche Unterscheidung nicht
gemacht wird. Alles was außen ist, ist nicht nur innen, sondern auch
umgekehrt, alles was innen ist, ist auch außen. Es erscheint uns im übrigen
grundsätzlich problematisch, ob innere Erleuchtungsprozesse apokalyptische
Kriegsbilder und Zerstückelungsvisionen (wie zum Beispiel im tibetischen
Chöd Ritual) benötigen. Zumindest scheinen uns diese Gewaltvorgänge der
ursprünglichen Lehre des historischen Buddha zu widersprechen. Der
"Erhabene" führte keinen Krieg mit Mara (dem Teufel), sondern
blieb von dessen Versuchungen und Attacken völlig unberührt.
7. V. Brück verschweigt bewusst
die große Attraktionskraft, die der Shambhala Mythos auf die westliche
buddhistische Szene, der er selber angehört, hat. (siehe dazu Prof. Ernst
Steinkellner: Buddhismus und
Mythos)
Trotz seiner Darstellung des Shambhala Mythos als
einer kriegerischen Apokalypse, trotz der historischen Erkenntnis, dass
dieser Mythos politisch instrumentalisierbar ist, zieht von v. Brück
scheinfromm das Fazit: "Shambhala ist, wie wir gesehen haben, nur eine
andere Gestalt des Mythos von einem Paradies auf Erden." (156)
DER
KRIEG DER ORAKELGÖTTER
Allenfalls in dem umfangreichen Shugden-Kapitel
(158 ff.) macht sich v. Brück die Mühe, wirkliche Recherchenarbeit zu
leisten und nicht die gängigen Schulschriften abzuschreiben. Wir sind auf
diesen Konflikt in unserem Buch ebenfalls ausführlich eingegangen
("Der Schatten des Dalai Lama" - S. 543 ff.). Wer sich dafür
interessiert, kann sich in die Shugden Position auf verschiedenen Webseiten
im Internet einlesen. (Siehe in unserer Homepage den Bericht von Helmut
Gassner unter: Friedrich Naumann Stiftung).
V. Brück versucht die Shugden-Verehrung als den
Kult einer autoritativen, sektiererischen Minderheit der Gelug-pa
darzustellen, die einem schamanistischen Geisterglauben verfallen sei. Er
beruft sich dabei auf ein Zitat des XIV Dalai Lama, der in diesem
Zusammenhang das Wort "Schamanismus" in einem sehr abschätzigen
Tonfall erwähnt haben soll. Einmal abgesehen davon, dass die gesamte
tibetische Kultur wesentliche schamanistische Charakterzüge aufweist (siehe
hierzu: Geoffrey Samuel - Civilized Shamanism - Buddhism in Tibetan
Society), sind es vor allem die Nyingma-pa und Kagyü-pa, welche
schamanistische Rituale durchführen und mit denen der Dalai Lama gegen die
Shugden Anbeter kooperiert und gerade nicht die Gelug-pa, von denen große
Teile die Schutzgottheit Shugden anbeten,. Denn die "Gelbmützen"
(Gelug-pa) gelten traditionsgemäß als rational und ecclesiastisch.
Doch schon der V Dalai Lama (ebenso wie der XIV
Dalai Lama ein Gelug-pa) war von den magischen Ritualen und Anschauungen
der Nyingma-pa so fasziniert, dass er ihre Ideen, Rituale und Gottheiten
geschickt mit seiner staatlichen Machtpolitik kombinierte. Der XIV Dalai
Lama kopiert darin seinen despotischen Vorgänger, versucht aber, die
magisch-schamanistische Seite seiner Politik, die in der Weltöffentlichkeit
als höchst unseriös empfunden würde, nach außen hin auf die Shugden Gruppe
zu projizieren. Wenn man bedenkt, dass gerade die Gelugpa Schule (Shugden)
die anderen Sekten (insbesondere die Nyingma-pa) wegen ihres Schamanismus
kritisiert, ist die Projektion des Dalai Lama ein Meisterstück der
religionspolitischen Täuschung. Der "Gottkönig" überträgt alles
Abergläubische, Magische und Dämonische auf den Shugden-Kreis, um zu
verschleiern, dass seine eigenen Handlungen ebenfalls magisch, dämonisch
und abergläubisch motiviert sind. V. Brücks Kapitel versucht diese
Sündenbock Projektion des "Gottkönigs" als die Vernunfttat eines
besonnenen Staatsmannes darzustellen. Er gerät aber bei diesem Unterfangen
erneut in ein Netz von Verstrickungen:
Zuerst gesteht v. Brück zu, dass es sich in dem
Shugden Konflikt - nach tibetischer Sicht - um einen Kampf verschiedener
Gottheiten handelt. Eine Sicht der Ereignisse, die wir voll unterstützen
können, die uns aber immer wieder in der Öffentlichkeit als eigene
Erfindung unterstellt wurde, weil wir damit der rationalen Grundausrichtung
des Dalai Lama schaden wollten. Für v. Brücks unendlich dehnbare
Mythentheorie ist diese Anerkennung eines "metapolitischen"
Götterkampfes aber kein Problem: "Die Überlieferungen zeigen," -
so der evangelische Theologe - "wie die Gottheiten um Macht und Ruhm
kämpfen, indem sie sich zum Beispiel an Wundern übertreffen wollen. Darin
spiegeln sich die Machtkämpfe zwischen verschiedenen Sekten, Schulen und
Tulku-Linien auf der irdischen Ebene." (175/176) Auch die folgende
Aussage untermauert die "mythische" Dimension des Kampfes :
"Da es sich hier um eine Kontroverse handelt, bei der es um Gottheiten
(!) geht, die miteinander in Konflikt geraten sind (Nechung versus
Shugden), ist eine unmittelbare Einsicht in die Natur jener spirituellen
Ebenen vonnöten, um die Authentizität der einen oder anderen Seite
beurteilen zu können." (206)
In dieser "theologischen" Abwägung der
beiden Götterseiten schlägt sich v. Brück eindeutig auf die Seite des Dalai
Lama und seines Orakelgottes (Pehar/Nechung). Das offizielle Urteil lautet:
Der Shugden Gott ist bösartig, atavistisch und sektiererisch; Palden Lhamo
(die Schutzgöttin des XIV Dalai Lama) und Pehar/Nechung (der Orakelgott des
Dalai Lama) sind gut, modern und ökumenisch. "Sein (Shugdens)
Charakter" - so v. Brück - "ist gewalttätig und machtvoll, wenn
er seine Gegner symbolisch vernichtet, und es werden ihm symbolisch
Tieropfer dargebracht. Sein Wohnsitz ist angefüllt mit Skeletten und
menschlichen Schädeln, er selbst ist von Waffen umgeben sowie von einem See
aus Menschen- und Pferdeblut. Sein Körper ist von dunkelroter Farbe, sein
Gesichtsausdruck ähnelt dem der bekannten Darstellungen von indischen
Dämonen." (177) Zwar gesteht v. Brück zu, dass auch andere tibetische
Schutzgottheiten (Dharmapalas) ähnliche Züge aufweisen, aber bei den beiden
Dharmapalas des Dalai Lama (Palden Lhamo und Pehar/Nechung) werden diese
abstoßenden Eigenschaften bewußt verschwiegen, obgleich sie bei weiten das
dämonische Szenario der Shugden - Verehrung an Grausamkeiten übersteigen:
Pehar/Nechung (der Orakelgott des Dalai Lama) war
ursprünglich ein berüchtigter mongolischer Kriegsgott, der durch einen
magischen Bann in den Dienst des Lamaismus gestellt wurde und dessen
zukünftige Rache die Lamas immer noch fürchten. Für v. Brück ist er dagegen
euphemistisch eine "Emanation der Sprache, die auf die Zeit von
Trisong Detsen zurückgehen soll und deshalb als besonderer Beschützer der
tibetischen Regierung betrachtet wird." (176; siehe zum aggressiven
Charakter von Pehar/Nechung S. 543 ff. "Der Schatten des Dalai
Lama").
Schlimmer noch v. Brücks glorifizierende
Charakteristik der Palden Lhamo. Diese Dämonin bildet einen
Kulminationspunkt auf der Skala der Grausamkeiten und Hässlichkeiten
innerhalb des tibetischen Pantheons: Sie ermordete ihren eigenen Sohn
ermordete, als sich dieser weigerte, den buddhistischen Glauben anzunehmen.
Danach zog sie ihm die Haut ab, um diese als Sattel auf ihrem Maultier zu
verwenden. Sie reitet - in der tantrischen Ikonographie - durch einen
Blutsee, bereit, jeden Feind der buddhistischen Lehre zu vernichten. Für v.
Brück ist dieses Muttermonster (die Schutzgottheit des Dalai Lama), das
seinen eigenen Sohn schlachtet, weil dieser sich dagegen widersetzte, zu
konvertieren, "ökumenisch" gesinnt, denn es werde nicht
nur von den Gelug-pa sondern auch von den Nyingma-pa verehrt (S. 176).
Diese Umkrempelung einer fanatischen Glaubenskriegerin in eine Vorkämpferin
der "Ökumene" ist wirklich ein burlesker Höhepunkt, den v. Brück
in seinem "Götterdrama" um den Shugden Fall eingeführt hat.
Wie tief der Dalai Lama selber von seinen
Gottheiten (hier speziell dem Nechung/Pehar - Orakel) abhängig ist und wie
eng er selber in den "Aberglauben" verstrickt ist, den er nach
außen hin anprangert, zeigt der folgende Satz aus dem v. Brück Buch:
"Der Dalai Lama verlässt sich, wie alle Dalai Lamas vor ihm [was nicht
stimmt] auf Nechung, und er argumentiert wiederholt, dass er Nechung in
einer besonderen spirituellen Kommunikation, die nicht jedem zugänglich
ist, in der Angelegenheit befragt hätte. Nechung habe ihm mitgeteilt, er
müsse die Angelegenheit regeln. Dem gemäß sei Nechung im Konflikt mit
Shugden, und aus diesem Grund müsse der Shugden - Kult aufgegeben
werden." (206)
DER
MANTEL DER GESCHICHTE
Selbst für v. Brück ist das obskure Verhalten des
tibetischen "Gottkönigs" nicht so ganz geheuer, aber er
akzeptiert es nicht nur, sondern legitimiert es mit einer interessanten
okkulten Begründung: "Hier ist zu bedenken, dass jedes politische
Handeln im Spannungsfeld von vorgegeben Zwängen bzw. Notwendigkeiten und
individueller Gestaltung bzw. Freiheit des Menschen angesiedelt ist. Der
'Mantel der Geschichte', das Schicksal, die göttliche Vorsehung oder
schlichtweg die Sachzwänge setzen einen Rahmen, der den Handlungsspielraum
ermöglicht oder einschränkt, in beiden Fällen aber die Freiheit der
politischen Entscheidung und Handlung eingrenzt. Das Offenkundige, das
durch Analyse und politische Klugheit zutage tritt, muss immer auf dem
Hintergrund des Verborgenen und nicht Einsehbaren betrachtet werden."
(207)
Die beiden Gründe für politische
Entscheidungsgrenzen sind also einmal Sachzwänge und dann das Unbenennbare
und die okkulte Kraft, die hinter den Kulissen des großen Welttheaters
alles schafft. Dieses "Uneinsehbare" und "Verborgene"
(= "Okkulte"), dieser geheimnisvolle 'Mantel der Geschichte' kann
aber im Falle des tibetischen Buddhismus nichts anderes sein als das
sexualmagische Ritualwesen des Kalachakra Tantra und die damit verbundene
Eschatologie des Shambhala Mythos. Die "göttliche Vorsehung", das
politisch-kulturelle Schicksal dieser Welt sind im Skript des Kalachakra
Tantra aufgeschrieben. Wer Augen hat zu lesen, der lese und er wird den
buddhokratischen "Heilsplan" und die "verborgenen"
Mittel für seine Durchsetzung ohne weiteres in Erfahrung bringen.
Von Brück weiß sehr wohl um die Beziehung von
Mythos, Magie, Sexualität und Politik im tibetischen Buddhismus. Man
braucht nur die abstrakten Begriffskonstruktionen, mit denen er seine
"politischen Theologie" umschreibt, zu konkretisieren, indem man
diese auf den XIV Dalai Lama und dessen Ritualpolitik anwendet, und die
durch Astrologie, Mythen, Beschwörungen, Prophezeiungen und tantrische
Rituale charakterisierte politische Intention des Lamaismus tritt offen
zutage. Dies wollen wir bei dem folgenden Zitat aus v. Brück Buch tun,
indem wir die Konkretisierungen im Klammern hinzufügen: "Andere
Kulturen [z. B. die tibetische] stellen das Handeln des Menschen,
des Königs oder der politisch maßgeblichen Figuren [z. B. des Dalai Lama]
in den Zusammenhang eines größeren Weltgesetzes, das durch astrologische
Berechnungen offenkundig werden soll [z. B. durch die des Kalachakra
Tantra]. Im tibetischen Buddhismus ist eine religiöse Grundannahme die
Einheit des Bewusstseinskontinuums, das über die menschliche Sphäre
hinausreicht und alle Lebewesen bis zu subtil-feinstofflichen Bereichen
miteinander verbindet. Höhere Wesen [wie die tibetischen Götter und
Buddhas], die tiefer in die kausalen Muster der Wirklichkeit
einzudringen vermögen, äußern sich zum Beispiel durch Orakel oder in
Träumen bzw. durch meditative Schauungen." (207)
Das ist mythisches Denken in Reinform
mit folgender Konsequenz: Der kleine Mensch hat sich den politischen
Entscheidungen der Götter - nach den Worten des Autors den
"verborgenen Kräften der Gegenwart und der Zukunft" - zu
unterwerfen. Die "höheren Wesen" (zum Beispiel die Gottheiten,
Bodhisattvas und Buddhas, die sich im Dalai Lama inkarnieren) machen die
wirkliche Weltpolitik, indem sie die Irdischen als ihre Marionetten
benutzen.
Solch ein "theokratisches" oder besser
"buddhokratisches" Weltbild, wie es uns v. Brück vorsetzt, wirft nicht
nur die Frage nach der humanen Abhängigkeit von "Übermenschen"
(hier auf Erden repräsentiert von Hohen Lama und manchmal auch von
Religionswissenschaftlern) auf, sondern ebenso die Frage, welche
Götter denn der Weltgeschichte ihren "Mantel umlegen". Nach
tibetischer Sicht sind das - wie könnte es anders sein - die National-
Götter und Buddhas aus dem Himalaya. Ihre metapolitische Zielsetzung,
Strategie und Taktik haben wir ausführlich in unserem Buch "Der
Schatten des Dalai Lama" dargestellt und kommentiert. Deswegen soll
unser Aufklärungswerk - wie es von tibetisch-buddhistischer Seite ständig
gefordert wird - boykottiert werden, weil es mit dem Okkultismus von
"Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus", den v. Brück zu
restaurieren sucht, Schluss macht.
Von Brück beendet sein Buch mit einem Interview,
das ihm der Dalai Lama im Jahre 1986 gegeben hat. Mit diesen ewigen
Allerweltsweisheiten über Gewaltlosigkeit, Ökumene und politischer
Verantwortung wird der Leser nach seinem verwirrten Spaziergang durch die
"Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus" entlassen und
erneut legt sich der angenehme und undurchsichtige Schleier über das Denken
und Handeln der "Höheren Wesen", die den "Mantel der
Geschichte" tragen. Die Götter lenken, die Menschen denken, aber
nur nicht zuviel. Alles bleibt beim Alten, wir können uns ruhig
zurücklegen, ein paar Übungen aus den "Fünf Tibetern"
durchführen, etwas meditieren und uns den Alltagsgeschäften in Gesellschaft
und Politik zuwenden. Was jedoch die "große" Politik anbelangt,
welche die Grundlagen für die kommenden Kulturen schafft, so sollten wir
das den Göttern und ihren Vertretern hier auf Erden, den "kompetenten
Fachleuten" des Lamaismus und der Religionswissenschaft überlassen.
Sie werden das schon richten, das g'hört zu ihren G'schichten.
Von Brücks "Antibuch" versucht, allen
peinlichen Fragen aus dem Weg zu gehen, die sich aus seinem eigenen
"ganzheitlichen" Geschichtsbild (Zitat: "politisches Handeln
erfährt durch Religion ihre Legitimierung") ergeben: Was hat die
Sexualmagie des Kalachakra Tantra mit der Politik des Dalai Lama zu tun?
Weshalb wird der aggressive Shambhala Mythos ständig durch Riten und
Schriften beschworen? Wieso inkarnieren die tibetischen Äbte nie in der
Gestalt von Frauen? Warum glaubt der Dalai Lama an Geister, die sein Leben
bedrohen und richtet sich nach dem Willen von Orakelgöttern? Wenn v. Brück
ehrlich davon überzeugt ist, dass Religion und Politik nicht voneinander
getrennt sind, dann müsste er uns zeigen, dass die Blutspur, welche sich
durch die tantrischen Texte zieht, identisch ist mit der Blutspur, welche
durch die tibetische Geschichte fließt. Kult und Wirklichkeit decken sich
hier mehr als in anderen Religionen, nicht zuletzt deswegen, weil die
Tantras die Grausamkeit und das Verbrechen zum Bestandteil ihres
Rituallebens gemacht haben.
Des weiteren hätte man in einem Buch
über die Politik im tibetischen Buddhismus einige Bemerkungen über die
soziale Lage der Menschen erwartet. Diese scheinen für v. Brück überhaupt
nicht zu existieren. Es geht ihm ausschließlich um Priester (Mönche) und
Götter. Von Brück weiß sehr wohl, weshalb er dieses heikle Thema nicht
anschneidet. Er müsste ein sehr schmerzliches Bild des Schneelandes malen.
Ebenso wenig diskutiert von Brück die komplizierte und folgenschwere Rolle,
die der XIV Dalai Lama in der Weltpolitik spielt. Durch die scharfe
Konkurrenz zwischen China und dem Westen beinhaltet die Tibetfrage einen
gefährlichen Zündstoff. Solche Auslassungen sind nicht nur als übersehbare
"Mängel" zu bewerten. Dahinter steht eine Absicht.
Denn der evangelische Theologe v. Brück erweist
sich, wenn wir die übrige von ihm publizierte Literatur zum Buddhismus
durchsehen, selber als ein eifriger Streiter aus dem Lager lamaistischer
Metapolitik. Wie die exiltibetischen Lamas, so versucht auch er die Ideen
des Lamaismus im Westen zu verankern, indem er weder über dessen in seinen
sakralen Texten aufgeschriebene Absichten (Errichtung einer Buddhokratie)
noch über dessen Methoden (Sexualmagie) offen und ehrlich debattiert. Sein
ökumenisches Grundlagenwerk (Michael v. Brück und Whalen Lai - Buddhismus
und Christentum) ist ein typisches Beispiel für diese kalkulierte
Verschleierung. In dem 800 Seiten umfangreichen Buch, welches ständig die
Offenheit zwischen den christlichen und den buddhistischen Dialogpartnern
fordert, wird mit keinem einzigen Wort auf die eminente Bedeutung der
Tantras im Lamaismus eingegangen, so als gäbe es diese Schulrichtung
überhaupt nicht. Seitenlang lesen wir fromme und betuliche Mahayana Sprüche
tibetischer Gurus, die Toleranz predigen, von ihrer tantrischen
Geheimphilosophie und ihren kriegerischen Visionen ist dagegen nirgendwo
die Rede. Die Worte "Shambhala" und "Kalachakra Tantra"
kann der Leser weder im Text noch im Index finden, obgleich sie die
mythische und kultische Grundlage für die Religionspolitik des XIV Dalai
Lamas annoncieren. Im Gegensatz dazu wird der Hierarch von den beiden
Autoren als der glänzende, konkurrenzlose Star des ökumenischen Dialoges
verherrlicht, an den keinerlei Persönlichkeit auf der christlichen Seite
heranreicht. Eine Lichtgestalt ohne Schattenseiten - fast ein
"ökumenischer Messias". Eine solch kritiklose Apotheose des
tibetischen "Priesterkönigs" und seines Systems war nach dem Erscheinen
unseres Buches "Der Schatten des Dalai Lama - Sexualität, Magie und
Politik im tibetischen Buddhismus" nicht mehr möglich.
Da v. Brück sehr wohl die in unserem Text erwähnten
historischen Fakten und die Strategien des XIV Dalai Lama kennt und weiß,
dass diese (vor allem dank der Shugden-Affäre) nicht mehr geleugnet werden
können, versucht er es in seinem "Gegenbuch" mit der folgenden
Methode: Er legt eine untiefe Oberflächenkritik des Lamaismus vor, um von
unserer fundamentalen Kritik dieses atavistischen Systems abzulenken.
Letzteres wird ihm nicht gelingen, denn der Versuch der Dalai Lama Lobby,
unser Buch zu boykottieren, zu marginalisieren oder ihm die
wissenschaftliche Reputation abzusprechen, ist schon fehlgeschlagen. Unser
Text steht am Beginn einer breiten "Buddhismusdebatte", die nicht
mehr gestoppt werden kann. Von Brücks Buch "Religion und Politik im
tibetischen Buddhismus" dagegen ist nichts als ein mäßiger und
unorigineller Beitrag zu dieser Debatte.
©
V. & V. Trimondi
Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11. Oktober 2000 -
S. 14
Petra Kolonko
Seine Heiligkeit und das Kalacakra
Tantra
Tibetischer
Buddhismus und Politik: Verehrung des Dalai Lama
Der Dalai Lama genießt in Deutschland und fast
allen Ländern der ersten Welt großes Ansehen. Sein gewinnendes Wesen, sein
Eintreten für Gewaltlosigkeit und Toleranz haben ihn zu einer moralischen
Autorität werden lassen. Selbst jene, die hierzulande in aufgeklärter
Attitüde das Wort "heilig" nicht mehr in den Mund nehmen wollen,
haben keine Schwierigkeiten damit, den Mönch aus Tibet mit dem Titel
"Seine Heiligkeit" anzusprechen. Viel Verständnis des tibetischen
Buddhismus steht hinter solcher Verehrung für den Dalai Lama nicht, dafür
aber viel Mystifizierung des fernen Tibet und seiner Religion.
Der Westen möchte Tibet nicht in seiner eigenen
Gestalt wahrnehmen, sondern zieht eigene Projektionen auf das Land des
Schnees und der Mysterien vor, schreibt Michael von Brück. Die Verbreitung
des tibetischen Mythos liegt schon eine Weile zurück. Zu Ende des 19.
Jahrhunderts waren es die Theosophen, die Tibet zum verborgenen Land der
Mystik erklärten und in ihren Büchern bekannt machten. Auch die
"Entdeckung" des tibetischen Totenbuches als Kultbuch hat die
westliche Vorstellung von Tibet geprägt.
Der tibetische Buddhismus oder das, was man dafür
hält, wurde zunehmend von jenen entdeckt, die an den jeweiligen
Weltanschauungen, in denen sie aufgewachsen waren, kein Genüge mehr fanden,
so der Religionswissenschaftler Brück.
Resultat war und ist eine unkritische
Mystifizierung des alten Tibet als einer idealen Lebenswelt. Dagegen steht
eine Verurteilung des alten Tibet als einer inhumanen
Unterdrückungsgesellschaft, wie sie zum Beispiel von chinesischen
Historikern, mittlerweile aber auch von einigen Autoren im Westen geäußert
wird. Brück ist es gelungen, in einer knappen Übersicht eine weder
beschönigende noch ausfallend kritische Darstellung des Verhältnisses von
Religion und Politik in Tibet zu geben. Manchen Mythos kann man nach der
Lektüre schnell vergessen.
Weder war das alte Tibet besonders friedlich, noch
waren seine Lamas alle besonders heilig. Es hat Kriege mit Nachbarn und
Rivalen gegeben, Fraktionskämpfe wurden blutig ausgetragen. Die
verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus haben um die Macht
gekämpft. Brücks Darstellung erhellt auch das historisch wechselhafte
Verhältnis zwischen Tibetern, Mongolen und Chinesen, das bis heute
nachwirkt. Denn die Chinesen begründen ihre Herrschaftsanspruch damit,
Tibet sei schon immer chinesisches Territorium gewesen.
Brück bemüht sich sodann, die Grundlagen des
tibetischen Buddhismus, Mahayana-Buddhismus und Tantrismus zu beschreiben.
Dieser Teil des Buches ist offensichtlich als Verteidigung des tibetischen
Buddhismus gegen die jüngsten Angriffe aus dem Werk "Der Schatten des
Dalai Lama" entstanden. Dessen Autoren, Victor und Victoria Trimondi, "entlarven"
auch dunkle sexuelle Praktiken des tantrischen Buddhismus und unterstellen
dem Dalai Lama sogar ein Streben nach Weltherrschaft.
Spätestens hier wird deutlich, dass auch Brück ein
Verehrer des Dalai Lama ist und dass auch er in manche Falle der
Mystifizierung tappt. Er gibt eine ausführliche Darstellung des Kalacakra
Tantra, über die sexuellen Praktiken des tantrischen Buddhismus geht er
dezent hinweg. Der Autor verweist darauf, dass früher nur wenige wohl
Vorbereitete in diesen Ritus initiiert wurden, dass der jetzige Dalai Lama
das Kalacakra Tantra in Massen-Initiationen verbreite. Er enthält sich aber
der Kritik. Die Verehrung des Dalai Lama schlägt auch in einem angefügten
Gespräch des Autors mit dem Dalai Lama durch, in dem allgemein über Frieden
und Toleranz gesprochen wird und der Dalai Lama auf jede konkrete Frage -
wie etwa nach der Gentechnologie - konsequent unklar bleibt. Trotz dieser
Schwächen ist das Buch als Einführung in eine schwierige Materie zu
empfehlen."
Petra Kolonko
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