KRIEG DER RELIGIONEN

Politik, Glaube und Terror

im Zeichen der Apokalypse

 

FRONT | EXPOSÉ | INHALT | MEDIEN | LESERBRIEFE | DEBATTE | HOME

 

 

 

Der Tempelberg

 

Auszüge aus dem letzten Kapitel des Buches: Krieg der Religionen – Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse

 


Der Tempelberg als

messianisches Weltenzentrum

Wenn wir uns mittelalterliche Landkarten ansehen, dann sehen wir im Zentrum einer solchen Karte die Stadt Jerusalem, darum gruppiert sich kreisförmig die gesamte übrige Welt. Das wurde damals durchaus geographisch verstanden, aber Geographie war etwas anderes als heute. Sie wurde nicht reduziert auf reine Quantitäten und Qualitäten der Raumaufteilung, sondern es handelt sich hierbei um eine religiöse Geographie. Einem Ort kam ein umso bedeutenderer Stellenwert zu, je mehr er im Zusammenhang mit religiösen Ereignissen insbesondere mit dem Heilsgeschehen einer Religion stand. Er wirkte durch seine Heiligkeit auf die gesamte Raumgestaltung ein. Das „Heilige“ wurde immer als das geographische „Zentrum“ erlebt, das „Profane“ immer als die „Peripherie“. Wer sich im Zentrum befand, der stand dem Sakralen nahe, wer sich an der Peripherie aufhielt, der war vom Unheiligen umgeben. Eine Initiation vollzog sich durch eine Reise von der Peripherie zum Zentrum, vom Profanen zum Sakralen. Auch das wurde auch geographisch verstanden und war der Sinn jeglicher Pilgerreise. Jede einzelne Pilgerstation, die dem Zentrum näher lag, galt als eine Steigerung religiöser Intensität, die dann im Zentrum ihre Erfüllung fand. Diese spirituelle Deutung des Raumerlebnisses drückte sich in den damaligen Landkarten aus, die nach dem Prinzip von Zentrum (Heiligem) und Peripherie (Unheiligem) aufgebaut waren.

 

Das Heilige Zentrum wurde erlebt wie ein Kraft-Ort, der die ganze, konzentrisch um sich herum gruppierte Welt mit Energie versorgte. Zudem hatte das Zentrum eine mikrokosmische Bedeutung: alles was dort geschah, spiegelte sich in der um das Zentrum gruppierte Welt wieder. Das galt nicht nur für die guten Ereignisse, die sich dort abspielten, sondern ebenso für die schlechten. Das Heilige Zentrum war verletzlich. Ungläubige und Barbaren konnten dort eindringen und es okkupieren. Schreckliche Verbrechen konnten dort stattfinden. All das hatte ebenfalls Auswirkungen auf die um das Zentrum gruppierte Welt. Wenn das Zentrum in die Hand des Profanen und Unheiligen fiel, dann wurde die gesamte Welt profan und unheilig, wenn im Zentrum eine Sünde begangen wurde, dann versündigte sich die ganze Welt. Umgekehrt führte ein solches Denken logischerweise zu dem Schluss, wenn das Zentrum von den Barbaren und Ungläubigen, die es befleckten, befreit werde, dann werde auch die Welt von Barbarei und Unglauben befreit.

 

In der Sprache der Johannesapokalypse heißt das Zentrum „Jerusalem“ und die Peripherie heißt „Babylon“. Das Zentrum von Jerusalem wiederum ist der Berg Moriah, der Tempelberg. Alles, was auf diesem Stück Land mitten in der Jerusalemer Altstadt passiert, hat für jüdische und christliche Fundamentalisten eschatologische Bedeutung. Nach einer jüdischen Legende ist das Schicksal des Tempelberges direkt mit dem Schicksal der gesamten Menschheit verknüpft. Denn aus der roten Erde dieses Berges wurde der erste Mensch „Adam“ geformt. „Deshalb berichten einige“ – schreibt der jüdischen Religionswissenschaftler Raphael Patai -  „dass Gott dem Erzengel Michael befahl: ‚Bring mir Staub von dem Orte Meines Heiligtums!’ Diesen sammelte er in Seiner hohlen Hand und formte Adam; auf diese Weise band er die Menschheit auf natürliche Bande an den Berg.“ (1) Sowie die Geschichte der Menschheit auf dem Tempelberg begann, so soll sie auch an diesem Orte enden. Der Tempelberg ist deswegen das Zentrum der Apokalypse. Das gilt für die Juden und Christen, aber mittlerweile, wie wir sehen werden, auch für die Muslime.

 

Juden und Christen, die sich mit Endzeitspekulationen abgeben, sehen heute im „Zentrum der Welt“ keine Synagoge oder eine Kirche, sondern zwei Moscheen, den Felsendom mit seiner goldenen Kuppel und die al-Aqsa-Moschee. Der Felsendom wurde im Jahre 685 n. Chr. auf Order des Omaijaden Kalifen Abd al-Malik ibn Marwan errichtet. Der Hügel, auf dem er sich befindet, ist allen drei monotheistischen Religionen heilig. Die Israelis nennen ihn den Berg Moriah oder Har Habayit; die Palästinenser und Muslime sprechen von Haram al-Sharif („Edles Heiligtum“). Für die Juden soll hier der salomonische Tempel (zerstört durch die Babylonier im Jahre 586 v. Chr.) und seine Restauration durch den König Herodes (zerstört durch die Römer im Jahre 70 n. Chr.) gestanden haben. Die heutige Rechtslage auf dem Tempelberg ist verwirrend. Seit 1967 gilt er als israelisches Hoheitsgebiet, steht aber unter muslimischer Verwaltung, dem sogenannten Waqf (arabisch: „wohltätige Stiftung“).

 

Wie bizarr und irrational das apokalyptisch-messianische Phantasma im Judentum, Christentum und Islam auch sein mag, es konnte sich an diesem Ort zu einer unheimlichen Realität verdichten. Darin stimmen nicht nur die Fundamentalisten aller drei Religionen überein, sondern das ist ebenfalls die durchgängige Meinung säkular eingestellter Beobachter: „Jegliche Explosion auf dem Tempelberg – sei es ein Feuer, die Zerstörung eines Gebäudes oder ein Blutvergießen – wird eine hundertfache Auswirkung davon haben, wie etwas ähnliches an einem anderen Ort.“ – meint Shlomo Gazit, ein ehemaliger israelischer Geheimdienstbeamter, und der israelische Journalist Gershom Gorenberg, der die Geschichte des Tempelberges aufgeschrieben hat, stellt fest: „Jedes Ereignis an diesem Ort kann außer Kontrolle geraten.“ (2)

 


Die Fußnoten sind nachlesbar in der Printausgabe von: „Krieg der Religionen

 

Weitere Kapitel:

 

Der Tempelberg als messianisches Weltenzentrum (1)

 

Jüdische Fundamentalisten und der Tempelberg (2)

 

Christliche Fundamentalisten und der Tempelberg (3)

 

Islamische Fundamentalisten und der Tempelberg (4)

 

Tempelberg: Wahn und Wirklichkeit im Krieg der Religionen (5)

 

Der Tempelberg als Garten (6)

 

 

 

© Copyright 2003 – Victor & Victoria Trimondi

The contents of this page are free for personal and non-commercial use
provided this copyright notice is kept intact. All further rights, including
the rights of publication in any form, have to be obtained by written
permission from the authors.