KRIEG DER RELIGIONEN

Politik, Glaube und Terror

im Zeichen der Apokalypse

 

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Der Tempelberg

 

Auszüge aus dem letzten Kapitel des Buches: Krieg der Religionen – Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse

 


Tempelberg: Wahn und Wirklichkeit

im „Krieg der Religionen“

Mit einer geradezu unheimlichen Konsequenz konzentrieren sich die jüdischen, christlichen und islamischen Endzeit-Phantasmen auf Jerusalem und auf den Tempelberg. Hier wird für alle drei der letzte Akt der apokalyptischen Dramaturgie aufgeführt; hier befindet sich für sie der eschatologische Angelpunkt, um den sich das ganze Weltgeschehen dreht; hier erreicht die Geschichte der Menschheit ihren Höhepunkt und ihr endgültiges Ende; hier werden die Grenzen zwischen Jenseits und Diesseits aufgehoben. Der Tempelberg ist das geographische Zentrum der apokalyptischen Matrix, zumindest für die drei monotheistischen Religionen.  

 

Nach den jüdischen Vorhersagen werden die beiden islamischen Sakralbauten (die al-Agsa Moschee und der Felsendom) durch Menschenhand oder durch Naturereignisse, aber in jedem Fall durch einen Befehl Jahwes zerstört. An ihrer Stelle errichten anschließend die Juden den Dritten Tempel, das „Haus Gottes“, die Wohnstätte des kommenden Messiah, vor dem sich die Völker beugen. Von hier aus regiert dieser mit Strenge und Weisheit die Welt.

 

Auch nach den christlichen Prophezeiungen werden die al-Aqsa Moschee und der Felsendom durch Gottes Beschluss dem Erdboden gleich gemacht und durch den Dritten Tempel der Juden ersetzt. Aber danach okkupiert der jüdische Anti-Christ das Gebäude und lässt sich darin als Gott, als das unheilvolle Gräuel“ (Daniel 11:31), anbeten. Diese Blasphemie ist der Auslöser für die katastrophalen Armageddon-Kriege, in denen Milliarden von Menschen ihr Leben auf barbarischste Art verlieren und die dann von einem rächenden und gnadenlosen Christus als Militantem Messias beendet werden. Während dieser Endzeit-Kriege wird auch der jüdische Tempel zerstört und an seine Stelle der Vierte (christliche) Tempel der Letzten Tage aufgebaut, von dem aus der Sohn Gottes als Dominus Mundi mit eisernem Szepter die Welt Tausend Jahre lang regiert, bis sie dann auch in Schutt und Asche fällt. Hier hält er Gericht über den Satan und die Überlebenden aus den apokalyptischen Kriegen.

 

Ebenso werden, nach den Vorhersagen islamischer Doomsday-Autoren, die beiden Moscheen auf dem Haram al-Sharif (von den Israelis) geschleift. Die Juden errichten darauf ihren Dritten Tempel und beten darin ihren König als „Gott“ an. Dieser ist aber kein anderer als der Dajjal, der muslimische Anti-Christ. Nachdem es dem Mahdi, der am Ende der Tage erscheint, nicht gelingt, den Dajjal zu töten, kommt Isa, der muslimische Jesus, ihm zur Hilfe, um den satanischen Unhold zu vernichten. Nach seinem Sieg wird Isa auf dem Haram seine Residenz errichten, um von dort aus als Welt-Kalif eine zum Islam bekehrte Menschheit zu leiten. Einige Prophezeiungen sprechen davon, dass dann die Kaaba von Mekka nach Jerusalem gebracht wird. Aber der eschatologische Höhepunkt ist damit noch nicht erreicht, denn auf dem Haram wird Allah das Jüngste Gericht für jeden einzelnen Menschen und für jedes Volk abhalten. Hier trennt er die Guten von den Bösen, die Muslime von den Ungläubigen. Vom Haram al-Sharif aus führen zwei Wege, der eine ins Paradies, der andere in die Hölle. 

 

Der Tempelberg ist jedoch nicht nur eschatologisch sondern auch mythologisch aufgeladen wie ein Schwamm mit Wasser. Hier fanden – der Legende nach – zahlreiche mythische Primärereignisse statt, welche die drei monotheistischen Religionen bestimmend geprägt haben. Der Tempelberg ist der „Opferberg“ par excellence: auf ihm erschlug Kain den Abel; hier wollte Abraham seinen Sohn Isaak opfern (für die Muslime war es Ismael); hier massakrierten europäische Kreuzritter Tausende Anhänger Mohammeds. Er ist der Omphalus, der Nabel der Welt, auf dem das „Haus Gottes“ errichtet wurde. Auf ihm befindet sich ein Tor zum Himmel: Jakobs Himmelsleiter stand hier und Mohammed stieg von hier aus mit seinem Zauberpferd Buraq in die oberen Sphären. Hier erhob sich der Prachtbau des von allen drei Religionen hoch verehrten Wunderkönigs Salomon.

 

Unter diesem mythischen Gewicht der Vergangenheit und diesem eschatologischen Gewicht der Zukunft wird von Millionen von gläubigen Menschen die Gegenwart des Tempelberges wahrgenommen. Alles, was dort geschieht, hat für sie eine weit über das jeweilige reale Ereignis herausragende symbolische Bedeutung.

 

Die großen Themen der politischen Theologie, die wir im Fundamentalismus der drei monotheistischen Religionen ausfindig machen konnten, stehen indirekt oder auch oft direkt mit dem Tempelberg in einem Kontext. Dazu zählen: die Errichtung und Verwaltung einer weltweiten Theokratie; das polit-religiöse Konzept vom Priesterkönig als sakralem Weltenherrscher; die Aufhebung einer Trennung von Staat und Kirche; die Erwartung eines militanten polit-religiösen Heilsbringers (Messias); der Bau eines Sakralbaus als das kosmische Zentrum eines planetaren Reiches; die Ableitung politischer Willensbildung durch den direkten Kontakt eines politisierten Klerus mit Gott; die Lokalisierung der höchsten Gerichtsbarkeit bis hin zum Jüngsten Gericht. Der Tempelberg dient in der Imagination der Fundamentalisten als Feldherrnhalle während der Durchführung der Armageddon-Kriege; als Academia Universalis der sakralen Wissenschaft; als Aufbewahrungsort der religiösen Symbole, die in der post-apokalyptischen Zeit zu Reichsinsignien eines theokratischen Weltstaates werden sollen. (Die Vorstellung, dass hier die Tempelritter den Gral ausgegraben haben sollen, geht auf mittelalterliche Quellen zurück.) Der auf dem Berg zu errichtende Sakralbau des kommenden Messias wird als das mikrokosmische Abbild des gesamten Universums vorgestellt. Die Entscheidungen, die er im Tempel treffen wird, tragen einen universellen Charakter.

 

Deswegen wird dieser Ort auch ein Objekt von großer Begierde für die Kräfte der „dunklen Gegenseite“, die selber von hier aus ihre Herrschaft über die Welt ausüben wollen und  zeitweilig, während der Besetzung durch den Anti-Christen, auch werden. So ist der Berg sowohl der Sitz des Summum Bonum (des höchsten Guten) in der Gestalt des Messias als auch der Sitz des Summum Malum (des tiefsten Schlechten) in der Gestalt des Anti-Christen (Dajjal) – wobei jedoch der Messias des einen der Anti-Christ des anderen ist und umgekehrt. Der Tempelberg ist die Zentralsäule der gesamten apokalyptischen Architektur aller drei monotheistischen Religionen. Er ist das große Symbol der theokratischen Machtobsession, die keine anderen Götter neben sich duldet. Letztlich ist er die zentrale Austragungsstätte einer gewaltigen Theomachie, in der sich die monotheistischen Gottheiten Jahwe, Christus und Allah gegenseitig vernichten wollen und zu diesem Zweck Millionen von Menschen in den Tod schicken und die Erde verwüsten.

 

Wohl an keinem Ort der Welt werden die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, Mythos und Geschichte, Glaube und Politik für so viele Gläubige verwischt wie auf dem Moriah-Berg. Die apokalyptische Imagination hat dieses Territorium in einem Maße und mit Suggestivkraft infiziert, dass tatsächlich von ihm der folgenschwere Funke ausgehen kann, der unseren ganzen Planeten in Brand setzt. Angezogen wie von einem großen Magneten rekurrieren islamistische Terroristen, fanatisierte Rabbiner und machtbesessene amerikanische Prediger immer wieder auf den Tempelberg. Dieser ist in der Tat der Ort, von dem aus das apokalyptische Phantasma in die Realität umschlagen kann.

 

Die große Gefahr, die von dem Berg ausgeht, bleibt auch säkular und laizistisch eingestellten Beobachtern keineswegs verborgen. Politiker, Historiker und Korrespondenten aus Ost und West, aus Europa und von den Vereinten Nationen wiederholen es immer wieder: dieser Ort ist ein religionspolitisches Pulverfass. Besonders deutlich wurde das nach dem spektakulären Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon am 27. September 2000 und dem anschließenden Ausbruch der al-Aqsa Intifada, die eine bisher alles übersteigende Terrorwelle in Israel und den von den Israelis besetzten Gebieten freisetzte. Sharon ging es bei diesem Besuch um politische Macht. Indem er sich das religiöse Pleroma, das in diesem Berg pulsiert, propagandistisch ausnutzte, wurde er im Jahre darauf zum Ministerpräsidenten gewählt. Diese Macht-Imagination schwingt auch bei der ständigen Forderung der Palästinenser mit, ihren verstorben Revolutionshelden Jassir Araft auf dem Tempelberg begraben zu lassen und die strikte Weigerung der Israelis, das zuzulassen.           

 

Die verschiedenen monotheistischen Fundamentalisten haben sich mit ihren Doomsday-Prophezeiungen, ihren messianischen Heilserwartungen und ihren Allmachtphantasien so exquisit und kompromisslos auf diesen geographischen Punkt fixiert, dass ihre eigene Existenz von den politischen Entwicklungen in der Heiligen Stadt Jerusalem und auf dem Tempelberg abhängig ist. Das macht diesen Berg zum Schicksalsort des gesamten monotheistischen Fundamentalismus. Es handelt sich wirklich um die erstaunlichste territoriale Verdichtung von Endzeit-Ideologien dreier unterschiedlicher Religionen. Dies könnte aber auch etwas Gutes haben, denn eine dauerhafte Befriedung des Berges würde das ganze destruktive, apokalyptische Wahngebilde (in der Form wie es sich heute bei den monotheistischen Religionen präsentiert) und einen daraus abgeleiteten „Krieg der Religionen“ in sich zusammenfallen lassen.

 

Die Notwendigkeit von einer Befriedung des Geländes als der zentralste Beitrag für einen endgültigen Frieden im Nahen Osten und darüber hinaus für den Weltenfrieden liegt auf der Hand. Jeder Staatschef, jeder politische Unterhändler ist sich heute bei den internationalen Friedensverhandlungen der eminenten symbolischen Bedeutung dieses Ortes für die drei monotheistischen Religionen bewusst. Deswegen gibt es auch zahlreiche Vorschläge, den Konflikt um das Gelände zu lösen. Dennoch wird bei den wichtigen politischen Konferenzen zwischen den Israelis, den Palästinensern und Vertretern anderer Nationen (USA, EU, Arabische Liga, UNO, Russland) die Souveränitätsfrage über den Berg meistens herausgenommen. Die Standpunkte gelten in diesem Punkt als unverhandelbar. Erst sollen die islamischen „Märtyrer-Operationen“ beendet werden, dann sollen die Zukunft der jüdischen Siedler und der Westbank, die Anerkennung Israels durch die arabischen Länder und die Gründung eines palästinensischen Staates geregelt werden, ehe man sich der Jerusalem- und  Tempelberg-Frage zuwendet.

 

Von Seiten der derzeitigen islamischen Besitzer sind heute Kompromisse am aller wenigsten zu erwarten, gemäß dem Gesetz, dass einer, der etwas besitzt, nicht gerne darauf verzichtet. Selbst der als gemäßigt geltende ägyptische Präsident Hosni Mubarek warnt mit Nachdruck, die Hände vom Haram al-Sharif zu lassen: „Kein einziger in der arabischen oder islamischen Welt kann Ostjerusalem und die al-Aqsa Moschee verscherbeln.“ (1) Auf der anderen Seite gibt es sogar einige jüdische und christliche Fundamentalisten, welche die Errichtung von drei monotheistischen Heiligtümern auf dem Territorium befürworten. Wer aber die Ideologie dieser Leute kennt, der wird eine solche vorgebliche Toleranz überhaupt nicht ernst nehmen können. Die verhärtete „Alles oder Nichts Position“ ist und bleibt in diesen Kreisen weiterhin bestimmend. „Wir müssen offen und unerschrocken, immer und immer wieder, die einfache Wahrheit verkünden, dass der Tempelberg uns gehört. Es ist der Sitz der zwei zerstörten Tempel und der Platz auf dem der Dritte Tempel wieder erbaut wird – bald, mit Gottes Hilfe.“ – schreibt Rabbi Zalman Melamed, einer der sogenannten Siedler-Rabbiner. (2)

 

Am Rande verschiedener internationaler Nah-Ost-Friedensverhandlungen wurden zur Souveränitätsfrage über den umstrittenen Ort unter anderen die folgende Vorschläge diskutiert: Der Haram sollte weiterhin unter israelischer Gesetzeshoheit bleiben, aber muslimischer Kontrolle und Verwaltung (durch den Wagf) unterstehen. Das bedeutet die Aufrechterhaltung des status quo. Es sollte jedoch erlaubt sein, dort eine palästinensische Flagge zu hissen, und den Juden sei es fortan gestattet, an einem speziell hierfür auserwählten Platz zu beten. Ein weiterer Entwurf übertrug den Muslimen die („irdische“) Hoheit über das Gelände, während den Israelis die Lufthoheit und die „unterirdische“ Hoheit zustehen sollten. Insgesamt wurden seit 1967 mehr als 60 verschiedene Vorschläge zur Befriedung des Berges von offiziellen Institutionen präsentiert, darunter die Internationalisierung des Ortes; seine Aufteilung in drei von einander getrennte Segmente und dem zusätzlichen Aufbau einer Synagoge und Kirche auf dem Gelände; eine Föderation zwischen den beteiligten Interessengruppen; eine zeitlich begrenzte und wechselnde Souveränität von Israelis und Palästinensern usw..

 

Es gab auch den Vorschlag, dem Vatikan die Oberhoheit über Jerusalem zuzuschieben. Ein solcher Entwurf wurde von dem damaligen israelischen Außenminister Shimon Peres (1993) unterstützt und als Vaticanization of the Old City bekannt. Nach außen hin verfolgt Rom jedoch mit Zurückhaltung, wenn auch mit großer Ausdauer, eine „Internationalisierung Jerusalems“ und damit auch des Tempelberges. In einem Statement aus dem Jahre 1997, das im Catholic Information Network, einer bedeutenden, halboffiziellen katholischen Netzzeitung, abgedruckt ist, heißt es: „Jerusalem gehört jedem menschlichen Wesen. Zwei Tausend Jahre lang war Jerusalem eine Quelle kontinuierlicher Kriege, weil es immer von einer politischen Autorität regiert wurde, die einer Religion angehörte (christlich, muslimisch und heute jüdisch). Wenn sich Jerusalem einer ständigen Stabilität erfreuen soll, so dass es nicht mehr die Quelle von Kriegen ist, sollte es einen speziellen Status haben, der wesentlich fünf Komponenten entspricht, zwei Völker und drei Religionen. Keiner sollte außerhalb Jerusalems bleiben müssen. Alle fünf Komponenten, Israelis und Palästinenser, Juden, Christen und Muslime, sollten sich gleichermaßen in Jerusalem zu Hause fühlen, sollten gleichermaßen dieselben Rechte und Pflichten haben.“ (3) Die Internationalisierung der Staat unter dem Schutz der UNO ist zwar ein rational einsichtiges Modell, findet aber insbesondere bei den unmittelbar beteiligten (Israelis, Palästinensern, Jordaniern) wenig Zustimmung.

 

Einen ziemlich originellen Gedanke hatte die Washington Post. Sie regte an, das Gelände unter eine „göttliche Souveränität“ zu stellen und diesen (abstrakten) Begriff für jede einzelne der drei Religionen nutzbar zu machen: „Jede Seite könnte sagen, ‚Natürlich – es gehört zu Gott!’. Jeder würde dabei in den Vorstellungen seines Gottes denken, aber das wäre ein Weg, die Alles oder Nichts Lösung zu verhindern.“ (4) Derartige theologische Konstruktionen werden immer wieder artikuliert.


Die Fußnoten sind nachlesbar in der Printausgabe von: „Krieg der Religionen

 

Weitere Kapitel:

 

Der Tempelberg als messianisches Weltenzentrum (1)

 

Jüdische Fundamentalisten und der Tempelberg (2)

 

Christliche Fundamentalisten und der Tempelberg (3)

 

Islamische Fundamentalisten und der Tempelberg (4)

 

Tempelberg: Wahn und Wirklichkeit im Krieg der Religionen (5)

 

Der Tempelberg als Garten (6)

 

 

 

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