KRIEG DER RELIGIONEN

Politik, Glaube und Terror

im Zeichen der Apokalypse

 

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Der Tempelberg

 

Auszüge aus dem letzten Kapitel des Buches: Krieg der Religionen – Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse

 


Jüdische Fundamentalisten

und der Tempelberg

In Richtung Tempelberg (hebräisch: Har Habayit) wenden sich die Juden, wenn sie beten. Er gilt für die Frommen unter ihnen als der heiligste Ort auf dieser Erde. Eine Legende aus dem Talmud  erzählt, dass hier die Schöpfung der Welt ihren Anfang nahm und dass sich auf dem Gelände immer noch der „Schöpfungsstein“, der Nabel der Welt, befinde. Jahwe soll, wie schon gesagt, aus der „roten Erde“ des Moriah-Berges Adam, den ersten Menschen, geformt haben. Der mittelalterliche jüdische Gelehrte Moses Maimonides (1135 –1204) behauptete, hier hätten Kain und Abel ihre ungleichen Opfer dargebracht. Andere sagen sogar, auf dem Moriah Berg habe der erste Brudermord stattgefunden. Auch Noah opferte hier am Ende der Sintflut und Abraham wollte seinen Sohn Isaak auf diesem Felsen zur Ehre Gottes töten, als ihn Jahwe von der Bluttat befreite und einen Widder als Substitut schickte. Unterhalb eines seitlichen Vorsprungs des Moriah-Berges hatte Jakob seinen Traum von der Himmelleiter. Nachdem er erwacht war, rief er erschrocken: „Gott ist wahrlich hier, und ich habe es nicht gewusst. Dieser furchtbare [!] Ort muss sein Haus sein und die Pforte des Himmels.“ (1) Dann errichtete er dort eine Säule aus einem Stein, salbte ihn mit Öl und nannte ihn Bet-El, das „Haus Gottes“. König David legte auf dem Berg den Grundstein und König Salomon ließ dann den „salomonischen Tempel“ errichten. Die Tafel der Zehn Gebote und die Bundeslade sollen nach der Vorstellung orthodoxer Rabbinern heute noch auf dem Moriah Berg begraben liegen.

 

Zahlreiche Stellen aus den Heiligen Schriften verweisen auf die Gründung, die Konstruktion, die Symbole, die Riten, die Zerstörung und den Wiederaufbau des jüdischen Tempels. Der 48. Psalm wirkt wie ein Hohelied auf diesen Ort, an dem sich Gott niedergelassen hat, aus dem er vertrieben wurde und wohin er zurückkehren will: „Groß ist der Herr und hoch zu preisen in der Stadt unsers Gottes. Sein heiliger Berg ragt herrlich empor; er ist die Freude der ganzen Welt. Der Berg Zion liegt weit im Norden; er ist die Stadt des großen Königs.“ (Psalm 48: 2,3). Ezechiel schreibt: „Denn auf meinem heiligen Berg, auf dem hohen Berg Israel, […] dort im Land wird mir das ganze Haus Israel dienen.“ (Ezechiel 20:40) Und im zweiten Kapitel des Jesaja Buches erfahren wir, dass die Errichtung des Tempels nicht nur für die Juden, sondern für die gesamte Menschheit eine religiöse Angelegenheit darstellt: „Am Ende der Tage wird es geschehen: der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viel Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn. […]  Denn von Zijon kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort. Er spricht Recht im Streit der Völker, er weis viel Nationen zurecht.“ (2: 2-4)

 

Ultra-konservative Rabbiner wie Chaim Richman vom Temple Institute in Jerusalem sehen deswegen im kommenden jüdischen Tempel eine „Manifestation Gottes“, durch die sich dieser allen Menschen mitteilen wird: „Der Tempel war nicht nur die Seele der Stadt [Jerusalem], sondern die Seele und das Bewusstsein der ganzen Erde, das Wunder der Welt und der Verdichtungspunkt für die Gebete der Menschheit.“ (2) Für Richman wirkt der Berg wie ein „Mikrokosmos, ein kosmischer Plan“. Der sichtbare Tempel wird von ihm als das irdische Abbild eines unsichtbaren, himmlischen Tempels angesehen. Er ist ein „spiritueller Ort, aufgeheizt mit spirituellen Energien“. Hier kann der Mensch mit seinem Schöpfer in direkten Kontakt treten. (3)

 

Die Hoffnung, den Tempel wieder zu errichten, ist ein Traum aller strenggläubigen Juden und steht im Zentrum des religiösen Zionismus. „Wir sollten nicht vergessen, dass das höchste Ziel beim Sammeln der Vertriebenen und der Errichtung unseres Staates die Errichtung des Tempels ist. Der Tempel ist die höchste Spitze der Pyramide.“ – predigt Rabbi Shlomo Aviner, Reserveleutnant der israelischen Armee. (4) Der Gründer des säkularen Zionismus, Theodor Herzl, hatte in einer seiner Schriften (Altneuland) diskutiert, ob denn der Platz für den Tempel nicht nach Tel Aviv zu verpflanzen wäre. Diese Vorstellung löst auch heute noch unter religiösen Zionisten einen Horror aus. Schon Rabbi Kook der Ältere setzte „Tel Aviv“ gegen das „Banner von Jerusalem“, den politischen Rationalismus gegen den „Stolz Jakobs“. (5)

 

In diesem Geiste fasste auch das israelische Chef-Rabbinat im Jahre 1976 den folgende Beschluss: „Der Tempelberg ist der Berg Moriah, der Sitz des Tempels, des Allerheiligsten, der Platz, den der Herrgott Israels wählte, um seinem Namen eine Wohnstätte zu geben. [...] Das Recht des jüdischen Volkes auf den Tempelberg und auf den Sitz des Tempels ist ein ewiges, unveräußerliches göttliches Recht, über das es keine Konzessionen geben kann.“ (6) – „Ich kann mir keinen israelischen Staat oder israelisches Leben in diesem Land ohne den Tempelberg vorstellen.“ – sagt auch der radikale Rabbi Gershon Salomon und fährt fort – „Der Tempelberg ist für uns der Ort des Lebens. [...] Der Tempelberg ist die notwendige Bedingung dafür, dass das israelische Volk seine historische Mission erfüllt.“ (7) In Israel soll der Rechtsanspruch auf den Heiligen Ort in den letzten Jahren immer populärer geworden sein. 1983 waren nur 18,3 Prozent aller Israelis der Meinung, dass es „Zeit wäre, den Tempel wieder aufzubauen.“ Im Jahre 1996 steigerte sich nach einer Gallup Umfrage diese Zahl schon auf 58,5 Prozent. (8)

 

Die historischen Zerstörungen des ersten und zweiten Tempels hatten, der Legende nach, verheerende Auswirkungen auf die jüdische Kultur, die weit gravierender waren als der Verlust einer heiligen Stätte. Seit dem Tag, als das Heiligtum geschleift wurde, sei den Juden nicht nur die Gabe der Prophetie abhanden gekommen, sondern auch „die sexuelle Freude [in der Ehe] und diese wurde den Sündern gegeben.“ (9) Eine Art Erbsünde, ja ein böser Fluch, laste seither auf dem Volk der Juden. „Jede Generation, in welcher der Tempel nicht wieder errichtet wird, muss so angesehen werden, als habe sie den Tempel zerstört.“ – heißt es im Jerusalemer Talmud (Yoma 1:1)  Viele Juden idealisieren ihren Tempel wie eine „verlorene Utopie, in der Gott und die Menschen sich einer vollendeten Beziehung erfreuten, eine verlorene Kindheit. Seine Zerstörung symbolisiert [für sie] den Verlust der Unschuld.“ - schreibt der israelische Journalist Gershom Gorenberg. (10)

 

Die Wiedererrichtung des Tempels wird, ausgehend von entsprechenden Bibelzitaten, mit dem baldigen Erscheinen des Messiah in Zusammenhang gebracht. „Auf hohem, ragendem Berge schlägst du dein Lager auf, auch dorthin steigst du, Opfer zu schlachten.“ – „Und werden bringen alle eure Brüder aus allen Völkern […] nach meinem heiligen Berge, nach Jeruschalajim [Jerusalem], spricht der Ewige.“ – heißt es zum Beispiel bei Jesaia (56:7; 66: 20) „Das Kommen des Messiah steht kurz bevor, wir können es an der Atmosphäre verspüren, und in allen Dingen des Lebens, die so in diesen Tagen geschehen. [...] Fragt heute jeden auf der Strasse und er wird dir sagen, dass er fühlt, [...] dass der Messiah sehr, sehr bald kommt [...] nicht weit von heute.“ – verkündet Rabbi Gershon Salomon. (11) Für diesen fanatischen Aktivisten der zeitgenössischen Tempelbewegung ist der Wiederaufbau des Dritten Tempels „der Klimax aller Ereignisse vor dem Kommen des Messiah ben David. Gott möchte wieder inmitten seines geliebten Volkes Israel leben.“ (12) Es liegt auf der Hand, dass viele orthodoxe Juden die muslimische Verwaltung des Tempelberges (durch den Waqf) als eine Art Beschmutzung ansehen, die es zu reinigen gilt. „Wir werden den Schandfleck der unseren heiligen Berg besudelt, wegschaffen. Wir werden den Tempelberg befreien, selbst wenn es unsere politischen Führer nicht zulassen  [...] Anstelle des Felsendoms und der Moscheen – die Flagge Israels und der Tempel!“ – skandierte Gershon Salomon 1998 auf einer Versammlung. (13)

 

Doch einer gewaltsamen Inbesitznahme des Moriah-Berges durch die Israelis wird nicht nur von islamischer und liberal-jüdischer Seite widersprochen. Sie steht auch, wie wir schon erwähnt haben, im Widerspruch zu den Lehren bestimmter Gruppen der Haredim. Diese ultra-orthodoxen Juden verweisen auf ein religiöses Gesetz, nach dem es jedem Juden verboten ist, das Gelände des Har Habayit vor dem Erscheinen des Messiah zu betreten. Auch gilt bei ihnen jeder Versuch, den Tempel vor diesem Ereignis zu rekonstruieren, als frevelhafte Tat, die das Endziel unberechtigterweise „forciere“, und wird deswegen als ein „Teufelswerk“ angesehen. (14) Eine Übertretung des Gesetzes, also ein Besuch des Moriah-Berges, kann bei den Haredim zum Ausschluss aus der Gemeinde führen. Es wird unter ihnen auch die Meinung vertreten, die Rekonstruktion des Tempels könne gar kein Werk von Menschenhand sein, sondern sei ein Wunder Gottes. Dieser werde eines Tages die gesamte Tempelarchitektur vom Himmel auf die Erde herabsenden. (15)

 

Im Gegensatz hierzu fordern aktivistische Rabbiner wie Chaim Richman die militante Rückeroberung des Tempelberges und die sofortige architektonische Neukonstruktion des Heiligtums. Zu dieser Gruppe zählte auch der radikale, aus New York stammende später ermordete Rabbiner Meir Kahane. Seine kleine, aber sehr aggressive Anhängerschaft bekleisterte mehrmals die Mauern von Jerusalem mit Plakaten, auf denen gefordert wurde, „die Moscheen auf dem Tempelberg auszuradieren.“ (16) Für Kahane annonciert der Besitz des Har Habayit eine weit reichende Machtsymbolik: „Derjenige, der den Tempelberg kontrolliert, wird Jerusalem kontrollieren. Und derjenige der Jerusalem kontrolliert, wird das Heilige Land kontrollieren.“ (17)

 

Auch Rabbi Gershon Salomon von der Organisation Temple Mount Faithful ist davon überzeugt, das es keinerlei friedliche Lösung in der Nahostfrage gebe, bevor der Tempelberg nicht in jüdischer Hand sei. Sobald die Israelis ihre Oberhoheit über das Gelände aufgäben, werde Gott den schrecklichsten aller Kriege entfesseln. „Nach diesem Krieg wird eine neue (göttliche) Ära beginnen. Der Dritte Tempel wird das Haus Gottes sein, das einzige Gebäude auf dem Tempelberg. Der Messiah ben David wird der König von Israel und der gesamten Menschheit sein.“ (18)

 

Am 22. Januar 2004 schrieb Salomon an Papst Johannes Paul II einen offenen Brief, den er gleich zu Beginn als einen „Ruf Gottes und des Volkes Israel“ bezeichnete. Darin forderte er die Rückgabe des Siebenarmigen Leuchters (Menorah) und vieler anderer Schätze aus dem jüdischen Tempel, die der „böse Kaiser Tiberius“ nach der Zerstörung des Heiligtums im Jahre 70 nach Rom verschleppt habe und die sich jetzt im Besitz des Vatikans befänden. Romreisende hätten sie dort (im Laufe der Jahrhunderte) immer wieder gesehen. Es sei an der Zeit, so Salomon, diese Gegenstände zurückzuerstatten, damit Israel seine in den Prophezeiungen angekündigten Berufungen erfüllen könne: „Der Gott Israels erwartet von Ihnen“ – schreibt Salomon dem Papst – „diese Aufgabe und die Mission Israels zu respektieren. Er erwartet auch von Ihnen, das Wort und das historische Versprechen Gottes zu akzeptieren, dass der Messiah nicht im Vatikan oder irgendeinem anderen Platz erscheinen wird, sondern in Jerusalem.“ Die Rückgabe sei eine Gelegenheit, „ja das größte Privileg Ihres Lebens“, um „gleichzeitig Vergebung im Namen derjenigen zu erbitten, die von Rom kamen, das Haus des Gottes von Israel, den Tempel, zerstörten und all seine heiligen Schätze mit nach Rom nahmen.“ Als nach drei Wochen immer noch keine Antwort aus dem Vatikan vorlag, forderte Salomon jeden auf, der seinen Brief gelesen habe, diesen erneut nach Rom zu schicken, so dass der Papst erkenne, dass „Millionen von Menschen“ die Rückgabe der Tempelschätze verlangten. Das Oberhaupt der katholischen Kirche könnte sich jetzt dieselben Verdienste machen wie einst der persische König Kyros, der den Juden die Schätze zurückgab, die der Zerstörer des salomonischen Tempels, Nebukadnezar II., geraubt hatte.  (19)

 

Auch Israels konservative Politiker artikulieren am Rande immer wieder Ansprüche auf den Tempelberg unter Berufung auf Bibelzitate. Der spätere Premierminister  Menachem Begin (von 1977-1983) sagte schon im Jahre 1947: „Der dritte Tempel wird, wie es der Prophet Ezechiel dargestellt hat, noch in unserer Generation erbaut werden.“ (20) 1977 soll er erklärt haben: „Wenn ich Ministerpräsident werde, dann werde ich den Tempelberg für die Juden öffnen. Ich werde weder die Reaktion der Christen, noch die der Muslime fürchten.“ (21) Itzhak Schamir (Premierminister von 1986-1992) soll einen Brief an Gershon Salomon, den Sprecher der radikalen Organisation Temple Mount Faithful, geschrieben haben, in dem er diesem seine Unterstützung zusagt. (22) Und Benjamin Netanjahu hatte kurz vor seiner Wahl erklärt: „Das Recht des jüdischen Volkes auf seinen Heiligen Platz, den Tempelberg, kann nicht in Frage gestellt werden.“ (23) Es gibt auch eine Temple Mount Lobby in der Knesset. Einer davon ist der Abgeordnete Hanan Porat, der 1967 als Militär  bei der israelischen Besetzung des Tempelberges dabei war: „Der Tempel verkörpert den Versuch des Judaismus, die materielle Welt zu heiligen; so wie der Sabbat und die Festtage dafür geschaffen wurden, die Zeit zu heiligen, so war der Tempel dafür da, einen heiligen Raum zu schaffen. Nach der Tradition war der Tempel der Platz, wo Gott seine Entfernung [von den Menschen] aufhob und sich selbst den menschlichen Wesen offenbarte.“ – argumentiert Porat. (24)

 

Die Opferung der Roten Kuh

Die Rekonstruktion und sakrale Verwaltung des Dritten Tempels setzt nach der Lehre orthodoxer Juden die rituelle „Reinheit“ der Gläubigen voraus. Sie berufen sich dabei auf  einen Passus aus dem Buch  Numeri: „Ein reiner Mann sammelt die Asche der Kuh und legt sie in einen reinen Ort außerhalb des Lagers. Sie wird für die Gemeinde der Israeliten zur Zubereitung des Reinigungswassers aufbewahrt. Sie ist ein Sündopfer.“ (19:9) Das jüdische Gesetz (die Halacha) besagt, dass die Unreinheit der Juden unter anderem dadurch entstanden ist, weil Juden, wie andere Menschen auch, einen direkten oder indirekten Kontakt mit den Toten haben. Als „Unreine“ dürfen sie aber den Tempelberg nicht betreten, zumindest nicht bestimmte Stellen, die als besonders heilig gelten. Es bedarf erst gewisser Ereignisse, um die ursprüngliche Reinheit wieder herzustellen. Eines davon ist die rituelle Opferung einer „Roten Kuh“ (Englisch: red heifer; hebräisch: parah adumah). Erst wenn eine solche Kuh entdeckt und aufgezogen, nach drei Jahren von einem Hohepriester geschlachtet und dann verbrannt worden ist, kann ihre mit Wasser vermischte Asche dazu dienen, die notwendigen Reinigungsriten zu vollziehen. In extrem verdünnter Lösung könnten dann mit dem von der Kuhasche berührten Wasser Zehntausende Juden purifiziert werden. Es sind auch Überlegungen im Gang, die „Rote Kuh“ zu klonen, um genügend Reinigungsmaterial zu erhalten. (25) Dieses Kuriosum ist – man sollte es kaum glauben - gleichsam die conditio sine qua non für das Erscheinen des Messiah. „Um die Wahrheit zu sagen“ – argumentiert Rabbi Chaim Richman – „das Schicksal der ganzen Welt hängt ab von der Roten Kuh. Denn Gott hat angeordnet, dass ihre Asche das einzig fehlende Ingredienz ist, um die biblische Reinheit wiederherzustellen und danach den Tempel wiederaufzubauen.“ (26)

 

Traditionell wird dieses Tieropfer mit dem Kult um das Goldene Kalbes in Zusammenhang gebracht (Exodus 32:1-10): In derselben Zeit als Moses die Zehn Gebote empfing, fielen die Israeliten vom rechten Glauben ab und beteten ein goldene Tierstatue an, die ein Kalb oder Rind darstellte. Moses war wütend und zertrümmerte die göttlichen Gesetzestafeln, die er vom Berge Sinai mitgebracht hatte. Dann befahl er den Abtrünnigen, das Götzenbild zu zerstampfen und das so entstandene Pulver mit Wasser vermischt zu trinken. Anschließend stieg er zum zweiten mal auf den Berg und brachte einen neuen Dekalog mit sich. Allgemein wird die „Anbetung des Goldenen Kalbes“ als die Gier nach materiellen Reichtümern gedeutet, wodurch die Welt des Sakralen eine Verunreinigung erlitten habe. Durch die Waschung mit der Asche der „Roten Kuh“ könne diese Befleckung aus der Zeit des Moses wieder rückgängig gemacht werden. (27)

 

Nach der Mishna, der aufgeschriebenen mündlichen Tradition, wurde in der Geschichte des Judentums das Opfer der „Roten Kuh“ bisher neunmal vollzogen. Und nun erwarten die Orthodoxen die zehnte Kuh, von der es heißt, sie „wird am Ende der Zeiten geboren zur Errichtung des Dritten Tempels.“ Die Asche einer Roten Kuh soll die Welt verändern! Diese Vorstellung, so absurd und bizarr sie klingen mag, beherrscht aber nicht nur die Imagination fundamentalistischer Juden, sondern ebenso die Phantasie fundamentalistischer Christen.

 

Immer wieder kommen rote Kühe in Israel zur Welt und immer wieder eilen erregte orthodoxe Juden, amerikanische Evangelikale und die Fernsehanstalten des ganzen Landes an die Geburtstelle. Photos werden aufgenommen, Interviews werden gemacht und rabbinische  Rechtsgutachten werden eingeholt. Nur wenige weiße Haare, etwa am Schwanz, genügen, um den Test nicht zu bestehen. Es scheint schwierig zu sein, ein wirklich vollendetes Tier zu entdecken. Rabbi Richman vom Temple Institute schlägt deswegen vor, den Prozess zu beschleunigen, in dem man eine ganze Herde von Red Angus Rindern aus Amerika in großer Zahl importiere. Irgendwann werde sich dann aus dem Nachwuchs die ideale Kuh herausfiltern lassen. (28)

 

1997 wurde eine Rote Kuh in Kfar Hassidin, einem kleinen Kibbutz in der Nähe von Haifa,  entdeckt. Mit vielen anderen Gesinnungsgenossen triumphierte damals Rabbi Yehuda Etzion, ein Protagonist der sogenannten „Dritten Tempel Kultur“ (Third Temple Culture): „2000 Jahre haben wir auf ein Zeichen Gottes gewartet, und jetzt hat er uns mit einer Roten Kuh beschenkt.“ (29) Das Tier erhielt den Namen Melody. David Landau, Kolumnist der höchst seriösen Zeitung Ha’aratz, warnte vor den politischen Konsequenzen dieser Entdeckung und forderte mit Nachdruck, das Tier müsse sofort erschossen werden. „Jedes Molekül“ von Melody sei zu zerstören. „Denn das mögliche Elend, das von dieser Kuh ausgehen kann, ist bei weitem größer als die Destruktivität einer regulären Terroristen Bombe.“ – meinte Landau. (30) Rabbi Gershon Salomon bestätigte das, wenn auch mit einer gegenteiligen Intention: „In der säkularen Presse Israels“ – so Salomon – „und an anderen Orten der Welt wurden Artikel publiziert, wonach die Geburt einer Roten Kuh eine ebenso große Gefahr darstellt wie eine Atombombe, weil sie das Tor und die Möglichkeit für Millionen von Juden öffnen wird, sich selbst zu reinigen und dann auf den Tempelberg zu gehen, ihn von der islamischen Besatzung zu befreien und den Tempel zu errichten.“ (31)

 

Selbst in der islamischen Presse gab man sich in diesem Fall apokalyptischen Spekulationen hin. In ihrem dritten Lebensjahr, werde die Rote Kuh „im Tempel Salomons geopfert und die Person, die das Opfer durchführt, wird ihr [der Israelis] König sein, der Erlöser, der Anti-Christ.“ – schrieb ein palästinensischer Journalist mit dem Namen Amin Jamal al-Din. (32) Das Problem löste sich jedoch von selbst dank der weisen Voraussicht von Mutter Natur. Schon nach einem Jahr wuchsen der gut bewachten Melody einige weiße Schwanzhaare. So hielt sie der Qualifikationsprüfung nicht stand. Die Suche nach der messianischen Roten Kuh konnte von neuem beginnen.

 

Ein weiteres Kuriosum aus dem Repertoire der jüdischen Tempelfanatiker ist die Aufzucht einer purifizierten Priesterkaste: Nur „reine“ jüdische Priester (Kohanim), die keine Berührung mit Toten hatten und die aus dem Stamme der Leviten kommen, dürfen die heiligen Riten im Neuen Tempel vollziehen. Wie findet man diese Auserwählten? Durch eine DNA-Analyse - denn die Angehörigen aus dem traditionellen Priester-Stamm sollen eine andere Erbinformation aufweisen als „normale“ Juden. (33) Rabbi Yosef Elboim, Leiter des Movement for the Establishment of the Temple, geht die Aufgabe schon praktisch an. Er will 19 Kinder (mit Einwilligung der Eltern) an einem isolierten Platz aufziehen, den sie bis zur bar-mitzvah (dem 13. Lebensjahr) nicht verlassen dürfen. Diese jungen, gut bewachten Kandidaten für das zukünftige Priesteramt sollen in einem Spezialgebäude leben, welches so konstruiert ist, dass sie niemals mit ihren Füssen den Boden berühren, denn in der Erde liegen die Toten begraben und ein Betreten der vom Tod gestempelten Erde würde ihre Seelen verunreinigen. (34)

 

Aktionen der Jüdischen Rechten auf dem Tempelberg

Unter jüdischen Fundamentalisten herrscht die Meinung, man könne den Messiah herbeibomben, indem man die Moscheen auf dem Tempelberg zerstört. Ein Mitglied des radikalen Untergrundes, der 1984 vom Shabak (dem israelischen Geheimdienst) wegen eines geplanten Attentats auf die al-Aqsa Moschee und den Felsendom verhört wurde gab folgendes zu Protokoll: „Die Zerstörung dieser Moscheen hätte Millionen von Muslimen in der ganzen Welt in Wut versetzt. Ihre Wut hätte zweifelsohne zu einem Krieg geführt, der zweifelsohne zu einem Weltkrieg eskaliert wäre. In einem solchen Krieg wäre die Skala der Verluste groß genug, um den Prozess der Erlösung der Juden und des Landes Israel vorwärts zu bringen. Alle Muslime würden dabei verschwinden und alles wäre bereit für das Erscheinen des Messiah.“ (35) Diese Aussage sollte man sich bei der kurzen Chronologie der militanten Tempelberg-Aktionen, die wir jetzt auflisten, immer vergegenwärtigen.

 

Bis 1967 war der Tempelberg jordanisches Hoheitsgebiet. 1967 wurde er in einer Blitzaktion von israelischen Paratroopers gestürmt. Deren Kommandant Motta Gur rief damals triumphierend aus: „Har Habayit Beyadeynu!“ (Der Tempelberg ist in unserer Hand) (36) Shlomo Goren, zu dieser Zeit Chef Rabbi der israelischen Armee, lief mit wallendem Bart, einer Thora-Rolle in der Rechten und einem Widderhorn in der Linken den Moriah Berg hoch. Als die jordanischen Soldaten zu feuern begannen, brach Goren in einen sakralen Gesang aus und rief den beteiligten Militärs zu: „Wir haben jetzt die Stadt Gottes eingenommen, wir betreten die messianische Ära für das jüdische Volk [...] Wir haben heute einen Eid geschworen, während wir die Stadt eroberten [...] über unser Blut haben wir einen Eid geschoren, dass wir ihn [den Tempelberg] niemals aufgeben werden, wir werden niemals diesen Platz verlassen.“ (37) Shlomo Goren schreckte nicht davor zurück, die sofortige Zerstörung der heiligen islamischen Stätten zu fordern: „Jetzt ist die Zeit gekommen Hundert Kilo von Sprengstoff in der Moschee von Omar [dem Felsendom] zu platzieren, das wär’s dann gewesen, und ein für alle mal hätten wir die Sache erledigt.“ Den Befehlshaber der israelischen Armee, Moshe Dayan, beschuldigte er: „Sie haben das Heiligste des Heiligen dem Feind von Gestern und von Morgen weggegeben.“ (38)

 

In der Tat hatte der säkular eingestellte Dayan mit dem Waqf, der islamischen Tempelverwaltung, vereinbart, dass der „Haram al-Sharif“ [Tempelberg] zwar israelischen Gesetzen unterstehe, aber ein religiöser Ort der Muslime bleiben solle und von ihnen verwaltet werde. Juden sei es zwar erlaubt, das Gelände zu betreten, aber es sollte ihnen verboten sein, dort zu beten und rituelle Handlungen durchzuführen. Dafür sei die Klagemauer (der West Wall oder hebräisch Ha’Kotel)) ausersehen.

 

Dieses Agreement war für die Religiöse Rechte in Israel ein Schock. Rabbi Gershon Salomon, heute immer noch ein fanatischer Streiter für die Errichtung des Dritten Tempels, erinnert sich an die 67er Ereignisse: „Gott brachte uns auf den Tempelberg zurück, um der ganzen Welt zu sagen: Ich setzte nicht nur meine Beziehung zu Israel fort, und die Juden sind nicht nur weiterhin mein Auserwähltes Volk, sondern ich beginne jetzt mit der Erfüllung meiner Endzeitpläne.“ (39) Deswegen sei, so Salomon, der Vertrag Moshe Dayans mit der islamischen Tempelverwaltung ein bösartiger Verrat gewesen: „Ich weinte Tränen der Pein, der Sorge und der Trauer!“ – bekannte er und gründete anschließend The Temple Mount and Land of Israel Faithful Mouvement, eine fundamentalistische Organisation, die mittlerweile mehr als 15.000 Mitglieder zählt. (40)

 

Der radikale Rabbi Meir Kahane sieht in der Entscheidung Dayans die Ursache für die zunehmende Radikalisierung der Palästinenser: „Von diesem Tag an, hat die israelische Regierung in einer einmaligen Darstellung von Masochismus, den Weg für eine totale Änderung in der Grundhaltung der Muslime geschaffen. Von einer verängstigten und feigen Bevölkerung verwandelte sie sich in eine arrogante, selbstbewusste und gefährliche. Von Menschen, welche die jüdischen Eroberer fürchteten, wurden sie zu Steinewerfern, Messerstechern, Granat- und Bombenwerfern. Das Höchste war, dass der Tempelberg wieder ihr Eigentum wurde, diesmal an sie zurückgegeben durch zweibeinige Lemminge mosaischen Glaubens. Sie waren immer passionierter davon überzeugt, dass die Zeit auf ihrer Seite spielt.“ (41) Wenn der Tempel nicht an die Araber zurückgegeben worden wäre, so ein Jerusalemer Rabbi zu dem israelischen Historiker Joseph Heller, „wäre der Messiah 1967 erschienen.“ (42) Diese Ansicht vertrat auch der radikale Rabbi Meir Kahane: „Hätten wir gehandelt, ohne die Reaktion der Nicht-Juden in Betracht zu ziehen, ohne Furcht darüber, was sie sagen vielleicht sagen oder tun könnten, wäre der Messiah direkt durch die gekommen und hätte uns Befreiung gebracht.“ (43)

 

1976 gab es einen Generalstreik und Protestmärsche in Ostjerusalem, weil sich Juden den Zugang zum Tempelberg verschaffen wollten, um dort zu beten. 1979 wiederholte sich das und 2000 Jugendliche gerieten damals mit den israelischen Polizeikräften in Konfrontation. 1980 versuchten 300 bewaffnete Fanatiker aus dem Gush Emunim Untergrund zum ersten Mal das Gelände zu stürmen, konnten jedoch wieder vertrieben werden. 1981 kam es zu Straßenkämpfen, wegen archäologischer Grabungen auf dem Gelände. 1982 eröffnete Alan Goodman, ein israelischer Armeeangehöriger mit amerikanischem Pass, mit einem M-16 Gewehr Feuer auf dem Tempelberg, „um den Ort, der den Juden heilig ist, zu befreien.“ Der Mann wurde von einem israelischen Gericht verurteilt. Er verteidigte sich damit, ein „göttlicher Befehl“ habe ihn überwältigt. (44) Goodman war ein Mitglied der militanten Meir Kahane Kach Bewegung.

 

1983 planten Anhänger von Gush Emunim, den Berg zu besetzen. Erneut drang eine  Gruppe von ihnen 1984 zusammen mit einigen Armee-Offizieren auf das Gelände vor und verwundeten dabei palästinensische Wärter. Sie trugen 250 Pfund hochexplosives Material mit sich, um die beiden Moscheen in die Luft zu sprengen. Rabbi Yehuda Etzion kommentierte später das Unternehmen: „Wir sahen uns selber als die Boten Gottes, und fragten ihn, was er von uns verlangte. Ich hatte die Vorstellung, dass der Schock, den diese Tat auslösen würde, das Bewusstsein der Nation verändern werde.“ (45) Wie bei dem anschließenden Prozess durchsickerte, wurde diese Aktion mit der Billigung hoher Politiker und Militärs geplant. (46) 18 Mitglieder der Gush-Konspiration verurteilte man zu Gefängnisstrafen. In ultra-konservativen Kreisen galten sie jedoch als Heroen. Auch Ariel Sharon bezeichnete sie einmal in der Knesset als „große Helden“. (47)

 

Als Spiritus Rector der ganzen Aktion soll aus dem Hintergrund der nach außen hin scheue Rabbi Jeschua ben Schoschan gewirkt haben. Der Kabbalist sah im Felsendom ein Zentrum böser Mächte „von der anderen Seite“, die das Kommen des Messiah und die Erlösung verhindern wollten. Eine Sprengung des Felsendomes würde eine Kettenreaktion insbesondere in den arabischen Ländern auslösen, die notwendig sei, um das Szenario der Endzeit in Gang zu setzen. Dass es bei einer solchen Konfrontation wohl möglich zum Einsatz von A-Waffen kommen könnte, schreckte die jüdischen Extremisten nicht ab: „Die Aussicht auf eine atomare Katastrophe konnte sie jedoch nicht wirklich beunruhigen. Sie waren davon überzeugt, dass sie, wenn sie hier auf Erden eine Apokalypse auslösten, in der göttlichen Welt Kräfte aktivieren und Gott ‚nötigen’ würden, zu ihren Gunsten einzugreifen und den Messiah zu Rettung Israels zu schicken.“ – schreibt die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong im Zusammenhang mit dem geplanten Attentat. (48)

 

1990 führte Gershon Salomon zum ersten Mal seine Temple Mount Faithful Gruppe Richtung Moriah Berg, um dort den „Grundstein“  für den Dritten Tempel zu platzieren. Die Folge war, dass sich an die 5000 Palästinenser versammelten, um den Haram al-Sharif zu verteidigen, darunter viele Schulkinder. Es kam zu einer Konfrontation mit dem israelischen Militär. Mindestens 21 Muslime ließen ihr Leben, mehrere davon sollen hinterrücks erschossen worden sein, Hunderte wurden verletzt. Rabbi Salomon interpretierte die damals gegen Israel entfesselte Intifada als „ein Vorspiel für den Krieg, der noch kommen wird. - Der große Endzeitkrieg, den Ezechiel den Gog und Magog Krieg nennt und den Zacharias als die Schlacht um Jerusalem bezeichnet.“ (49) In einem Interview, dass Salomon der Times gab, forderte er unmissverständlich die Zerstörung der islamischen Sakralbauten: „Die israelische Regierung muss das durchführen. Wir brauchen einen Krieg. Es werden viele Nationen gegen uns aufstehen, aber Gott wird unser General sein. Ich glaube, es ist eine Prüfung, dass Gott von uns erwartet, den Felsendom ohne Furcht vor anderen Nationen zu zerstören. Der Messiah wird nicht von sich aus kommen, wir müssen ihn herbeibringen, indem wir kämpfen.“ (50)

 

1996 ließ die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu den Zugang zu einem Tunnel öffnen, den Archäologen am Rande des Tempelberges gegraben hatten, so dass er von Touristen betreten werden konnte. Erneut kam es zu erbittertem Widerstand der Muslime. 75 Tote waren die Folge. Die palästinensische Autonomiebehörde rief zur Trauer um die „Märtyrer von al-Aqsa“ auf. Die Osloer Friedensverträge waren vergessen. Schon seit Beginn der 70er Jahre argwöhnen Muslime, die Israelis wollten durch vorgegebene archäologische Unterminierungen des Haram die al-Aqsa Moschee und den Felsendom zum Einsturz bringen.

 

1998 zündete ein Mann eines der hölzernen Tore an, die auf den Tempelberg führen. 1999, am Passover Fest, wurde von Gershon Salomon ein Tieropfer an einem Ort, von dem aus man den Berg Moriah übersehen konnte, vollzogen.

 

Einen Höhepunkt in der Dramaturgie des Tempelberges bildete der provokante Besuch, den Ariel Sharon zusammen mit einigen Knesset-Abgeordneten am 27. Sep. 2000 dem Gelände abstattete. Der damalige Oppositionsführer wollte mit seiner Provokation einen „Test“ für die Osloer Verträge durchführen, indem er eine „einfache Pilgerreise“ zum „heiligsten Ort des Judentums“ durchführte. Die islamischen Reaktionen waren verheerend, wenn auch voraussehbar. Nach Sharons spektakulärem Auftritt, versammelten sich 20.000 wütende Palästinenser in der al-Aqsa Moschee, um dem Großmufti, Scheich Akramah Sabri (Ikrima Sabri), zuzuhören, wie er den israelischen Politiker beschimpfte, der mit seiner Entheiligung des Haram al-Sharif mehr als eine Milliarde Menschen islamischen Glaubens herausgefordert habe. Der Mufti rief zum pan-islamischen Djihad auf, um die Juden aus Palästina zu vertreiben. Jasser Arafat ließ die Schulen schließen und einen Generalstreik verkünden. Es kam zu erbitterten Straßenschlachten. Mehr als 130 Personen wurden getötet, 2.200 verletzt. Die meisten davon waren Palästinenser. (51) Machtpolitisch war Sharons Kalkül aufgegangen. Die Israelis machten ihn zum neuen Ministerpräsidenten und unterstützen damit seine Hardliner Politik gegenüber den Palästinensern.

 

Rabbi Gershon Salomon glaubt, dass Gott persönlich Ariel Sharon auf den Heiligen Berg schickte und ihn dann anschließend zum Ministerpräsidenten Israels machte: „Sharons Besuch war kein Zufall.“ – predigte der Rabbi – „Gott legte den Gedanken in sein Herz, den Tempelberg hinauf zu gehen, um die ewige Herrschaft Gottes  über dem heiligsten aller Plätze zu offenbaren und ein klares NEIN! zu den schrecklichen Plänen, diesen Ort wegzugeben, auszusprechen. Die Feinde Israels verstanden die Bedeutung von Sharons Besuch auf dem Tempelberg. Sie begannen einem Krieg gegen Israel mit der Ermutigung aller arabischen Länder und ihrer zahlreichen Verbündeten in der ganzen Welt. Als diese Ereignisse begannen, wurde Barak schwächer und schwächer und alle anderen Parteien seiner Koalition verließen ihn. Das war ein Gericht Gottes, welches mit außergewöhnlichen Mehrheitsergebnissen zur Wahl des Mannes der ihn besuchte, der für Ihn kämpfte und der für Ihn und für Seinen Heiligen Berg demonstrierte. Es war auch die klare Botschaft, dass Gott damit fortfahren wird, Israel zu retten und dass er keinem Feind erlauben wird, die Hand auf Seinen Heiligen Berg und Seine Heilige Stadt Jerusalem zu legen. Er zeigte jeden – ob dieser das will oder nicht – dass der Tempelberg sehr bald der Sitz Seines Heiligen Tempels sein wird.“ (52)

 

Nach Sharons spektakulärem Auftritt wurde der Tempelberg für den Besuch durch Nicht-Muslime geschlossen. Seither sind die Aktivitäten fundamentalistischer Rabbiner, die einen Anspruch auf das Gelände erheben, nicht mehr abgeflaut. Im Juli 2001 rief der rabbinische Rat von Judäa, Samaria und Gaza alle jüdischen Gemeinden auf, das umstrittene Heiligtum zu besuchen. (53) Das wurde von offizieller israelischer Seite nicht erlaubt, aber Sharon versicherte 2002, er werde bei der allernächsten Gelegenheit den Tempelberg wieder für Nicht-Muslime öffnen lassen. Das arabische Knesset-Mitglied Abdel Malik Dehamshe hielt dem entgegen, dass eine Wiederöffnung „ein Blutbad zur Folge haben wird.  Wir alle wissen, was passierte, als Sharon das Gelände besuchte.“ (54)

 

Im Jahre 2004 war es Sharon selber, der sich von einem möglichen jüdischen Terroranschlag auf den heiligen Berg bedroht fühlte. Im Juli erklärte sein Minister für innere Sicherheit, Tzachi Hanegbi, in einer Pressemitteilung: „Die Aussichten wachsen, dass jüdische Extremisten eine Attacke auf den Tempelberg ausüben könnten, damit der Abzugsplan [aus dem Gazastreifen] nicht zur Durchführung gelangt.“ (55) Geplant sei die Zerbombung der beiden Moscheen, die den Berg krönen. Als Antwort auf das Statement des Ministers sagte der schon erwähnte radikale Rabbi Yehuda Etzion in einem Interview: „Das wäre mehr als eine positive Tat und ich freue mich darauf, zu sehen, wie diese Moscheen zu Ruinen zerfallen.“ (56) - „Es wäre ein wertvoller Beitrag, den Felsendom in die Luft zu sprengen!“ (57) Etzions Traum, den er 1984 als Mitglied eines Sprengkommandos von Gush Emunim nicht verwirklichen konnte, würde dann in Erfüllung gehen. Kamal Khatib, Sprecher der in Israel lebenden Muslime, ist angesichts solcher Aussichten entsetzt und warnt: „Das ist die ultimative rote Linie. Wenn jüdische Terroristen sich auf einen solche Akt reinen Wahnsinns einlassen, werden sie riesige Feuer in der ganzen Welt entzünden und nur Gott weiß, wie diese Feuer wieder gelöscht werden können.“ (58) Die Presse sprach von einem „Doomsday Szenario in Jerusalem.“ (59)

 

Ebenfalls im Jahre 2004 versammelte sich eine Gruppe von religiösen Zionisten in Ost-Jerusalem, um dort ein Ritual aus der Zeit des Ersten Tempels durchzuführen, in der Absicht, Sharon politisch kalt zu stellen. Unter den Tönen geblasener Widderhörner im Hintergrund führten Professor Hillel Weiss von der Bar-Ilan University und Rabbi Yosef Dayan, der vorgibt, von König David abzustammen, das sogenannte nisuah hamayim Ritual, durch das die säkulare Regierung Israels (auf magische Weise) beendet werden soll. „Diese Zeremonie wird die Grundlagen für die Institution eines jüdischen Königs, eines jüdischen Obersten Gerichtshofes und für den Dritten Tempel legen. Wir werden Inspiration und Stärke aus dieser Zeremonie ziehen, so wie es die Priester zu Zeiten des Tempels getan haben, und wir werden sicherstellen, dass das jüdische Volk nicht von seinem Land vertrieben wird.“ – erklärte Hillel Weiss. (60)

 

Im ersten Halbjahr 2005 ging das Gerangel um den umstrittensten Ort der Welt weiter. Jüdische Protestler versammelten sich in der Nähe des Berges und forderten dessen Rückgabe. Knesset-Mitglieder hielten dort Reden über die große Bedeutung des Har Habayit für die Tradition des Landes. Sharon musste in Jerusalem 3500 Militärpolizisten platzieren, weil man eine Stürmung des Heiligtums befürchtete. (61) Am 8 Mai verbarrikadierten sich an die 1000 Muslime in der al-Aqsa Moschee, um den Berg gegen jüdische Extremisten zu schützen.

 

Die radikalen jüdischen Tempelberg-Organisationen

Der extremistische Rabbi Yehuda Etzion ist der Sprecher der Chai VeKayam Bewegung (Temple Mount Loyalists), die sich für die Errichtung des Dritten Tempels einsetzt. Etzion glaubt fest daran, dass alle Nationen und Völker diesen als der Welt größtes Heiligtum anerkennen werden. (62)

 

Eine andere Organisation HaTenu’ah LeChinun HaMikdash („Rückführung des jüdischen Volkes zum Heiligen Tempel“) organisiert Demonstrationen und Veranstaltungen, um die Idee vom Wiederaufbau des Dritten Tempels populär zu machen. Seit 1987 stellt unter der Leitung des Rabbi Yisrael Ariel eine Gruppe von Handwerkern in der Altstadt von Jerusalem Sakralgegenstände für den kommenden Tempel her. Priesterroben, Urnen, Leuchten, Posaunen, Schalen usw. Das sogenannte Temple Institute, wo diese Gegenstände bestaunt werden können, zählt jährlich 100.000 Besucher. (63) Eine weitere Gruppe ist Yeshivat Ateret Cohanim (wörtlich: „Krone der Priesterseminars“) des Rabbiners Shlomo Aviner, der von Politikern wie Benjamin Netanjahu und Ariel Sharon unterstützt wurde und der großzügige Supports aus dem Ausland erhält. Aviner sieht eine seiner Hauptaufgaben darin, Priester für den zukünftigen Tempeldienst zu trainieren. (64)

 

Am bekanntesten ist die schon mehrmals erwähnte Temple Mount Faithful Bewegung des „Rabbi“ Gershon Salomon. Der charismatische, wie einige sagen „selbsternannte“ Rabbi erzählt, er sei während eines Scharmützels mit der syrischen Armee auf wunderbare Weise gerettet worden. Syrische Soldaten seien, als sie ihn töten wollten, davongerannt und hätten später gestanden, Salomon sei von Tausenden von Engeln geschützt worden. (65) Unter dem Eindruck dieses mystischen Erlebnisses habe er sein Leben dem Tempelberg geweiht und die Organisation Temple Mount Faithful gegründet. In einem Grundsatzprogramm fordert seine Organisation unter anderem: Befreiung des Tempelberges von der arabischen Okkupation; Transport des Felsendoms und der al-Aqsa Moschee an eine andere Stelle; Einweihung des Geländes, so dass es das spirituelle Zentrum Israels und für die gesamte Welt werden kann; Aufbau des Tempels als Gebetshaus für die Juden und für alle Nationen; Erklärung Jerusalem zur Hauptstadt Israels; Rückweisung aller sogenannter Friedensgespräche; Aufbau von Siedlungen in Jerusalem, Judäa und Samaria. (66)

 

Seit Ende der 80er Jahre versuchen die Temple Mount Faithful immer wieder, wenn auch bisher vergeblich, „Grundsteine“ des zu errichtenden Dritten Tempels auf dem Moriah Berg zu platzieren. Als die jüdischen Fundamentalisten 1998 einen erneuten Vorstoß wagten, schrieb Kaye Corbett, Journalist von WorldNetDaily: „Der Tempel Plan kann den Dritten Weltkrieg entzünden: Ein Grundstein soll heute auf einem explosiven Stück Erde gelegt werden.“ (67)

 

Auch im Jahre 2004 wurde das Ritual wiederholt. Die „Grundsteine“ waren in Einhaltung der biblischen Gesetze nicht mit Eisen, sondern mit Diamantschneidern bearbeitet worden. Auf einem Truck, beflaggt mit der israelischen Fahne, fuhren sie begleitet von einer betenden Menge durch Jerusalem. Die Prozession umkreiste den Tempelberg mehrmals, um die „Mauern der Feindschaft“, das heißt die muslimischen Anlagen, zu Fall zu bringen. In der Tat, so Gershon Salomon, habe Gott durch ein Erdbeben im Februar des Jahres (2004) auf das Ritual reagiert. Es kam zu gefährlichen Rissen in Mauern des Geländes. Das größte Wunder aber sei gewesen, dass kein anderes Gebäude in Israel außer dem Felsendom und der Decke in Ariel Sharons Büro in der Knesset beschädigt worden sei. „Dies war eine klare Botschaft Gottes an die Araber und Muslime, dem Tempelberg so schnell wie möglich zu verlassen, bevor er einen schrecklichen Gerichtstag über sie verhängt.“ Es sei aber auch eine klare Botschaft an Ariel Sharon gewesen, keinen zu fürchten, nur auf Gott zu vertrauen, die Feinde Gottes und Israels vom Moriah Berg zu vertreiben, das Gelände zu reinigen und den Dritten Tempel zu errichten. (68)

 

Nach dem Mord an Itzhak Rabin (1995) veröffentlichte die israelische Gruppe Keshev, ein Zentrum zur Verteidigung der Demokratie, einen zwölfseitigen Bericht mit dem Titel „Zielscheibe Tempelberg“ (Targeting the Temple Mount). Die säkular eingestellten Autoren kamen zu dem Schluss: „Der Tempelberg ist wie ein rauchender Vulkan, der ständig Blasen entlässt und der auszubrechen droht.“ – „Wenn der Heilige Ort beschädigt wird, fällt die ganze Schande auf Israel zurück und apokalyptisch zerstörerische Kräfte könnten entfesselt werden.“ Das Dokument fordert die israelische Regierung dringendst auf, jegliche Unterstützung von Organisationen der radikalen jüdischen Tempelbergbewegung einzustellen und sich öffentlich von rabbinischen Aufrufen, die Moscheen zu zerstören, zu distanzieren.  (69)


Die Fußnoten sind nachlesbar in der Printausgabe von: „Krieg der Religionen

 

Weitere Kapitel:

 

Der Tempelberg als messianisches Weltenzentrum (1)

 

Jüdische Fundamentalisten und der Tempelberg (2)

 

Christliche Fundamentalisten und der Tempelberg (3)

 

Islamische Fundamentalisten und der Tempelberg (4)

 

Tempelberg: Wahn und Wirklichkeit im Krieg der Religionen (5)

 

Der Tempelberg als Garten (6)

 

 

 

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